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Berlin: Fast nur noch "normale" Mieter wohnen in der "Kreutziger 12", das aber billig

Carl steht im Innenhof seines Hauses. "Von hier aus kann man die Zukunft sehen", sagt er und zeigt auf das angrenzende Gebäude.

Carl steht im Innenhof seines Hauses. "Von hier aus kann man die Zukunft sehen", sagt er und zeigt auf das angrenzende Gebäude. An dessen frisch verputzter Fassade, gehalten in zartem Rosa, befindet sich seit kurzem ein gläserner Aufzugsschacht - eine Annehmlichkeit, gedacht für zahlungskräftige neue Mieter. Elegant bewegt sich der Fahrstuhl nach oben. Carl schüttelt den Kopf - so stellt er sich die Zukunft für "sein" Haus nicht vor. Dabei ist es noch gar nicht lange her, dass das Gebäude nebenan ähnlich abbruchreif aussah wie jenes, in dem er mit rund 40 überwiegend jungen Leute wohnt.

Im Hof liegt allerlei Bauschutt, und von der schmutziggrauen Fassade bröckelt der Putz seit Jahren in großen Stücken herab. Die Nummer 12 der Kreutzigerstraße ist ein Relikt aus anderen Zeiten - jenen Tagen, in denen linke Autonome leer stehende Häuser in Berlins Osten besetzten. Zehn Jahre ist das her. Es folgten Straßenschlachten mit der Polizei, Verhandlungen mit den unliebsamen Bewohnern, Räumungen. Nur langsam kehrte Ruhe in den Kiez zurück: Einige der verbliebenen Besetzer erstritten sich Mietverträge, andere kauften "ihr" Haus mit Hilfe einer Genossenschaft. Manch ein ehemals besetztes Haus wurde in der Folge modernisiert oder zumindest instandgesetzt - nicht allerdings die Kreutzigerstraße 12. Trotz der Mietverträge der Bewohner scheint es, als ob die Zeit stehengeblieben sei. Nach ein paar anfänglichen Bauarbeiten, die das Gebäude buchstäblich vor dem Einsturz bewahrten, begann die Friedrichshainer Wohnungsbaugesellschaft WBF, das Haus seinem Schicksal zu überlassen.

Im Treppenhaus ist das Geländer behelfsmäßig mit Balken abgestützt. Abends brennt nur nach der ersten Treppe eine Lampe, danach müssen sich Besucher weiter durchs Dunkel über die ausgetretenen Stufen hinauftasten. Carls Wohnung liegt im dritten Stock. "Als ich eingezogen bin, war es total verwüstet", erzählt er. Es gab weder Spüle noch Wasserboiler, nicht einmal eine Wohnungstür war vorhanden. Mittlerweile hat er in Eigenregie die schlimmsten Mängel behoben, sich eine kleine Küche besorgt und die Wände rot, dunkelblau und sandfarben gestrichen. Auf eine eigene Toilette und Dusche muss er nach wie vor verzichten, ein Gemeinschaftsbad ist im Seitenflügel. Ein Kachelofen verbreitet im Wohnzimmer wohlige Wärme, auf einer Kommode steht ein altes Transistorradio. Bevor Carl vor zwei Jahren hier einzog, wohnte er ein paar Straßen weiter. Als der gebürtige Amerikaner sich eine neue Wohnung suchen musste, bekam er deutsche Gepflogenheiten zu spüren: Einkommensnachweis, Bürgschaft und Kaution wollten die Vermieter von ihm haben. "Es war hart", sagt er nüchtern. Über einen ehemaligen Nachbarn erfuhr er dann von der freien Wohnung in der Kreutzigerstraße, und schon wenige Tage später durfte er einziehen - ganz unbürokratisch. Die Entscheidung über neue Mieter darf entsprechend einem Vertrag zwischen Wohnungsbaugesellschaft und ehemaligen Besetzern die Hausgemeinschaft treffen. "Die haben mir dann mit den Formalien geholfen, und alles ging ganz easy", erinnert sich Carl. Drei Monate später bekam er seinen Mietvertrag, bezahlen muss er wegen des katastrophalen Zustands allerdings bis heute nicht. Und so billig - nämlich zu den Betriebskosten - wohnt man in Berlin wohl nirgends.

Frank, ein Nachbar von Carl, gehört zu den drei oder vier Leuten der ersten Stunde. Er war dabei, als das Gebäude im Frühsommer 1990 besetzt wurde. Seitdem sei es in der ganzen Gegend immer ruhiger geworden, sagt er: Nicht viel sei übrig von der Szene, die einst Berlin in Atem hielt. Diejenigen, die Friedrichshain treu geblieben sind, wohnen jetzt in geregelten Verhältnissen. Im Hinterhaus der Nummer 12 sind vor allem Musiker und Studenten eingezogen, "eigentlich Leute mit einem normalen Leben", sagt Frank. Aber auch in den schwierigen Zeiten, in denen die Besetzer mit der Polizei aneinandergerieten, sei von dem Haus nie Gewalt ausgegangen, behauptet er: "Wir wollten das Haus vor dem Abbruch retten und hier wohnen." Die Chancen dafür standen zunächst gar nicht schlecht. Doch vor kurzem hat die WBF das Haus verkauft - ohne Wissen und gegen den Willen der Bewohner, die es am liebsten selbst übernommen hätten. Der neue Besitzer hat jetzt eine Komplettsanierung angekündigt, doch die Bewohner wehren sich dagegen: Die neuen Mieten würden für die meisten unbezahlbar sein.

Auch Hacke, der eigentlich Harald heißt, hat in dem ehemals besetzten Gebäude ein neues Zuhause gefunden. Er wohnt im Vorderhaus in einer Wohnung ohne Strom und Wasser. "Vorher war ich seit Jahr und Tag ein freier Vogel", sagt er. Hier hingegen sei er wieder sesshaft geworden. Man kenne sich untereinander, und "ich kann hier an jede Tür klopfen und mit den Nachbarn einen Kaffee trinken, wenn ich will". Andrea, die noch zur Schule geht und seit 1997 in der Kreutzigerstraße wohnt, sieht das ähnlich: "Morgens Hallo sagen und abends mal ein Weinchen trinken", - das gefällt ihr. Wenn das Fahrrad kaputt ist, kann sie es von einem Nachbarn in der hauseigenen Werkstatt reparieren lassen - umsonst, versteht sich. Hacke hingegen würde besonders den "Shrine", den hauseigenen Club im Erdgeschoss, vermissen: "Da sind schon Gruppen aus Marokko, den USA und Australien aufgetreten", sagt er. "Und Bands, die aus dem Dschungel kommen", fügt er hinzu und grinst zufrieden. Keine Frage: So möchte er auch weiterhin wohnen.

Johannes Metzler

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