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Ermessensfrage. Die Initiatoren des Projekts müssen entscheiden, was im Internet gezeigt werden kann.

© Promo/ZZF

Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam: Zwischen Privatporno und Stasi-Kontrolle

Der Alltag in der DDR wurde häufig auf Super-8-Material festgehalten. In Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam werden nun diese privaten Schmalfilme ausgewertet. Was sich die Forschung davon erhofft.

Potsdam - Baden am Strand und im Meer, mit Kindern und Ehefrauen, im Badeanzug und auch ohne: Welche Bilder aus Hunderten von privaten Schmalfilmen aus der DDR öffentlich ins Internet gestellt werden können, darüber muss sich Politikwissenschaftler Laurence McFalls nun Gedanken machen. Wo FKK endet und Pornografie beginnt, ist eine der Frage, die dabei zu beachten sind. Der Wissenschaftler Laurence McFalls, der Filmemacher Alberto Herskovits und der Internet-Spezialist Hendrik Völschow haben in Zusammenarbeit mit dem Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) nun erstmals eine Auswahl aus der entstehenden Internetseite Open Memory Box präsentiert.

Familienfeiern, Geburtstage, Dorffeste: Auch in der DDR wurde das ganz normale Leben häufig von Privat auf Super-8-Material festgehalten. „Das kann schon nach 20 Minuten ungeheuer langweilig werden“, erzählt McFalls – und es sind etliche Hunderte von Filmen zu sichten. Was die Sache dann aber doch spannend macht: Auf dem Filmmaterial finden sich alle Facetten des Lebens im sozialistischen Alltag wieder, aus einem Gesellschaftssystem, das heute Geschichte ist. Auch was belanglos erscheint, kann für Wissenschaftler Irritationen und Überraschungen in sich bergen.

Jeder soll die digitalisierten Filme abrufen können

Für das Internetprojekt haben McFalls und Herskovits 2238 Filmrollen mit rund 400 Stunden Material gesammelt. 90 Festplatten wurden mittlerweile mit dem Material bestückt. „Wie wir die Originalfilme konservieren, wie daraus ein wirkliches Archiv werden kann und wo die Filme verfallssicher gelagert werden können, das sind alles noch ungeklärte Fragen“, sagt McFalls. In der „Open Memory Box“ sollen die digitalisierten Filmstreifen für jedermann im Internet abrufbar werden. „Wir richten uns an die Öffentlichkeit, nicht an ein Fachpublikum“, beschreibt McFalls den wissenschaftlichen Ansatz des Projektes. Die Seite ist noch nicht öffentlich zugänglich, soll aber in diesem Herbst oder zur Berlinale ins Netz gestellt werden. Ein erster Einblick ist jetzt schon zu bekommen. Künftig soll die Möglichkeit bestehen, sich einen bunten Schnipselreigen aus wenige Sekunden langen Sequenzen von DDR Filmszenen vorspielen zu lassen.

„Das ist ein Anti-Archiv“, konstatiert der Filmemacher Alberto Herskowits. Die Schnipsel sollen nie die gleiche Reihenfolge haben. Beim Aufrufen der Seite entstehen so immer wieder andere Filmsequenzen. Dadurch sollen die Filme auch bei mehrfachem Anschauen interessant bleiben. Gleichzeitig erhält der Nutzer jedoch die Möglichkeit, auf einer Filmleiste die Originalfilme in voller Länge abzurufen oder mittels entsprechender Schlagworte nach Themen zu suchen. Weil nicht nur die wissenschaftliche Fachwelt erreicht werden soll, hat sich das Team ein geschicktes Konzept überlegt. Eine Frage dabei war, wie man aus dem Immergleichen Filmsequenzen destillieren kann, die ein spezifisches Schlaglicht auf das Leben und den Alltag werfen.

Forschung orientiere sich selten an privatem Material

Bei einer Fernsehpräsentation waren die Zuschauer aufgefordert worden, private Filme einzureichen. Von der Flut des dann zur Verfügung gestellten Materials war der Wissenschaftler ziemlich überrascht. Die Filme seien ungewöhnliches Forschungsmaterial, stellt auch Historiker Frank Bösch, Co-Direktor des ZZF, fest. Denn Forschung orientiere sich selten an privatem Material, so Bösch. Oral History sei keine allgemein anerkannte Forschungsquelle. Erst in den vergangenen Jahren habe sich auch in der Geschichtsforschung eine Tendenz abgezeichnet, Einzelschicksale zu berücksichtigen und in geschichtliche Darstellungen einzufügen. Der Grund liege in der Unsicherheit der mündlich erzählten Geschichte. Denn Geschichte werde zwar erlebt, aber das Erlebte verändere sich in der Erinnerung.

„Häufig werden die Erinnerungen durch Medienberichte geprägt und verfälscht“, erklärt McFalls. Die so entstehende individuelle Erzählung sei zwar subjektiv wahr, habe dann aber wenig mit der historisch nachweisbaren Realität gemein. Gerade der subjektive Ansatz allerdings ist es, der die Filmrollen aus der DDR faszinierend macht. Denn einerseits ist es ein Bild einer vergangenen Zeit. Andererseits zeigen sich immer wieder Differenzen zu bundesdeutschem Erleben und zum heutigen Leben in Deutschland. Eine Realität scheint auf und wird fühlbar, die es so nicht mehr gibt.

Derzeit arbeitet das Team daran, einzelne Filme mit einem Kommentar derjenigen zu unterlegen, die die Streifen eingereicht haben. So sollen die Filme in Form von Dokumentarfilmen aufbereitet werden. Die Namen der Einreicher sollen zwar nicht im Internet veröffentlicht werden. Aber es soll über das Portal eine Kontaktmöglichkeit geschaffen werden.

Wie im Paradies - mit Stachel

Einer der bereits fertig gestellten Filme zeigt eine Arztfamilie beim Baden, im Garten, bei einem Besuch in Berlin. Das Baden im See, nahe der Datsche im Wald, das Plantschen mit den Kindern, Schwimmen lernen mit der Gummiente – es sei schon ein wenig wie im Paradies gewesen, kommentiert die unterlegte Frauenstimme. Aber das Paradies habe einen Stachel gehabt. Denn man habe gewusst, dass auch das unschuldige Badevergnügen sogleich der Staatssicherheit weiter gemeldet worden sei. Zwar sei die Akademikerfamilie privilegiert gewesen und habe materielle Vergünstigungen gehabt, die anderen nicht zugänglich waren. Deshalb habe man aber auch unter ständiger Beobachtung gestanden.

Um einen authentischen Kommentar zu den Filmen zu erhalten, besucht Laurence McFalls diejenigen, die die Streifen hergestellt haben und interviewt sie häufig mehrere Tage lang. Was die Sache nicht einfacher mache. „Dann habe ich häufig zwölf Stunden Tonbandmaterial. Daraus den passenden Kommentar zu kürzen ist noch einmal eine ziemlich aufwendige Arbeit“, so der Politikwissenschaftler McFalls. 

Richard Rabensaat

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