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Der Analytiker. Wie Geschichtsbilder in die Köpfe der Menschen kommen, will Sönke Neitzel wissen. Dazu müsse man auch Computerspiele analysieren, meint der renommierte Historiker, der neuerdings an der Universität Potsdam forscht und lehrt.

© dpa

Wechsel von London nach Potsdam: Militärgeschichte 3.0

Der bekannte Historiker Sönke Neitzel lehrt seit Oktober Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Uni Potsdam. Der unter anderem durch die Sendereihe ZDF-History bekannt gewordene Wissenschaftler will hier 2016 einen neuen Studiengang „War and Conflict Studies“ etablieren.

Potsdam. Sein Ziel ist die „Militärgeschichte 3.0“. Sönke Neitzel hat im Oktober den Lehrstuhl für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam übernommen. Damit tritt der Professor nicht nur die Nachfolge des renommierten Militärforschers Bernhard Kroener an. Der Historiker will zugleich neue Akzente setzen in einem Forschungsfeld, das durch einen Generationswechsel geprägt ist – sind doch dessen Protagonisten wie der Historiker Gerd Krumeich bereits emeritiert oder gehen, wie Gerd Hirschfeld, in Kürze in den Ruhestand.

Neuartige Vermittlung von Militärgeschichte

„Diese Generation hat die Militärgeschichte 2.0 der 90er-Jahre geprägt“, erzählt der 47-jährige Neitzel in einem Café am Berliner Savignyplatz, nicht weit von seiner Wohnung. „Wir wissen, was Militärgeschichte ist, die Handbücher sind geschrieben.“ Jetzt gehe es um eine neuartige Vermittlung von Militärgeschichte, die sich der jüngeren Generation anpasst. So habe der Verband „Arbeitskreis Militärgeschichte“, mit rund 500 Mitgliedern einer der größten Verbände von Historikern, anstelle der Verbandszeitschrift ein Onlineportal Militärgeschichte eingerichtet.

Umgekehrt nehmen die Historiker derzeit außer den Medien, die die Wahrnehmung von Militär und Krieg prägen, auch komplexe Computerspiele unter die Lupe. Welche Geschichtsbilder vermitteln diese Spiele von Schlachten wie der von Agincourt 1415 in Nordfrankreich bis hin zu kämpferischen Auseinandersetzungen im Irak, will Neitzel wissen. Welche Rolle spielt darin die Technik mit Details wie Waffen und strategischen Konstellationen? Die Analyse von Computerspielen könnte dazu beitragen, zu klären, „wie Geschichtsbilder in unseren Kopf kommen“, überlegt der Historiker: „Diese Frage ist bislang noch nicht beantwortet.“

Einmalige Forschungsstruktur in Potsdam

Dass der gebürtige Hamburger von der renommierten London School of Economics (LSE), wo er internationale Geschichte lehrte, nach Potsdam gekommen ist, habe in erster Linie private Gründe: Sieben Jahre Pendeln zwischen Berlin und London seien seiner Frau und ihm genug gewesen. Der Wissenschaftler hat seine berufliche Laufbahn an der Uni Mainz begonnen und nach Stationen in Bern, am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und in Saarbrücken kurzzeitig den Lehrstuhl für Modern History an der Universität in Glasgow übernommen.

An Potsdam interessiert Neitzel die „einmalige Forschungsstruktur“. So forsche auch das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) zur Gewalt, und am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr betreiben Soziologen und Historiker Langzeitstudien. Die Uni Potsdam könne außerdem mit Einrichtungen wie dem Einstein Forum kooperieren, die Freie Universität Berlin liege vor der Tür. „Ich habe die große Chance, daraus einen Cluster zu machen, den es bisher so noch nicht gibt“, freut sich Neitzel. „Ich bin nicht an einen Lehrstuhl gekommen, wo alles etabliert ist, sondern wo Aufbruchstimmung herrscht.“

Neuer Studiengang "War and Conflict Studies“ geplant

Geprägt durch seine Londoner Zeit bringt der Professor ein besonderes Anliegen mit: „Die London School of Economics (LSE) ist mit Abstand die internationalste Uni Großbritanniens“, hebt er hervor. „Ich habe den glühenden Ehrgeiz, die Lehre zu internationalisieren. Wir arbeiten zwar in Deutschland mit den Stichworten Internationalisierung und Interdisziplinarisierung – aber letztlich macht das kaum jemand.“

Wenn an der Potsdamer Universität im kommenden Jahr der Studiengang Military Studies ausläuft, will Neitzel diesen durch einen neuen ersetzen, der „War and Conflict Studies“ heißen könnte – und sowohl einen nationalen als auch einen internationalen Ausbildungsverlauf bieten soll. „Für den internationalen Teil bin ich im Gespräch mit der LSE und Amsterdam.“ Ziel sei ein doppelter Abschluss nach einem Studium in zwei Ländern.

Welche Forschungsschwerpunkte interessieren den Historiker? „Ein Brite würde sich für Strategie interessieren, ein Deutscher interessiert sich aus nachvollziehbaren historischen Gründen für Gewalt und Verbrechen“, sagt Neitzel. Geplant sei ein großes Forschungsprojekt, das sich mit militärischen Gewaltkulturen beschäftigt: „Gibt es einen German oder einen Russian way of war?“, will er wissen. „Haben die Deutschen eine bestimmte Affinität für Gewalteskalation gehabt? Oder war diese während des Ersten Weltkriegs allgemein verbreitet, wo es die deutschen Gräueltaten in Belgien, aber auch die russischen in Ostpreußen und die österreichisch-ungarischen in Galizien gab?“

Geheimdienste im 20. Jahrhundert 

Neitzel hat außerdem ein bereits laufendes Forschungsprojekt über die Geschichte der Geheimdienste im 20. Jahrhundert mitgebracht. Mit seinen Master-Studenten bearbeitet er aktuell die Zeit bis 1945, weil die Akten leichter zugänglich sind. „Was heißt überhaupt Intelligence?“, will er wissen. „Welche Geheimdienst-Kulturen gibt es in den einzelnen Ländern?“ Auch die Frage, wie die Dienste wahrgenommen werden und welches Selbstbild ihre Mitarbeiter haben, soll unter die Lupe. Auffällig findet der Historiker, dass Deutschland keinen einzigen erfolgreichen Agentenfilm zustande gebracht habe. „Die Deutschen hatten noch nie eine kulturelle Affinität zu Geheim- und Nachrichtendiensten. Auch im Militär waren diese nie akzeptiert.“

Sönke Neitzel, der als Berater historischer Fernseh-Dokumentationen wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ (2013) tätig ist und in diesem Jahre in einem ZDF-Fünfteiler über die Auseinandersetzung der Bundesrepublik mit der NS-Zeit mitwirkt hat, will seinen Studenten den Weg in die Praxis ebnen. Dabei denkt er an Kooperationen mit Nicht-Regierungs-Organisationen, Goethe-Instituten, politischen Stiftungen, Ministerien und Medien. „Wir haben als Historiker interessante Erkenntnisse über Kriege und Konflikte. Die Studenten sollen damit irgendwo arbeiten können – zum Beispiel in den Medien.“

Militärhistorie und gesellschaftliche Gewalt

Dass an der Potsdamer Uni Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt zusammen gelehrt und erforscht werden, sei begrüßenswert. „Beide Bereiche wurden in der Forschung bisher zu sehr getrennt. Die Gewaltforscher interessieren sich oft nicht für das Militär und für Armeen.“ Umgekehrt beschäftigten sich Militärhistoriker kaum mit gesellschaftlicher Gewalt. Als das Ergebnis einer gelungenen Kooperation bezeichnet Neitzel sein Buch „Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“, das er gemeinsam mit dem Soziologen und Sozialpsychologen Harald Welzer gemacht hat. Die Analyse der Abhörprotokolle gefangener deutscher Soldaten sorgte vor einigen Jahren für Aufmerksamkeit.

Nicht zuletzt bringt Neitzel aus London eine, wie er meint, andere Art und Weise mit, wissenschaftliche Diskurse zu führen. „Für mich ist Wissenschaft, sich selbst immer wieder infrage zu stellen“, sagt er überzeugt. „Dieses Beharren: Wenn du nicht meiner Meinung bist, dann schätze ich dich auch nicht und dann bekämpfe ich dich, ist doch albern.“

Isabel Fannrich-Lautenschläger

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