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Meerkat ermöglicht es, ohne hohe technische Hürden Videostreams in der Kommunikationsplattform an viele Nutzer zu übertragen und mit denen zu interagieren.

© dpa

Was machen Meerkat und YouNow mit uns?: „Zieh dich doch mal aus!“

Livestreaming ist das nächste Level der Selbstdarstellung im Netz. Die Apps Meerkat und YouNow leben von der Faszination des Unmittelbaren. Das birgt auch Gefahren.

Max rülpst. Er ruft zum Spaß in einer Frauenarztpraxis an und behauptet, seine 12-jährige Freundin sei schwanger. Lehnt sich in seinem Schreibtischstuhl zurück, fährt mit der Hand durch die gegelten Haare und erklärt, wie „geil“ sein neues Telefon ist. Der 16-Jährige ist offensichtlich gelangweilt. Gerade sehen ihm 123 Menschen dabei zu.

Max ist auf YouNow. Ein bisschen funktioniert die Plattform wie YouTube, nur dass alles, was Max vor seiner Webcam tut, sofort live ins Internet übertragen wird. Wer angemeldet ist, kann ihm dort Kommentare schicken. Aber auch jeder andere darf auf den Stream zugreifen und anonym zusehen, was der 16-Jährige in seinem mit Flachbildfernseher ausgestatteten Kinderzimmer so tut.

Livestreaming, das ist nach Meinung vieler Experten das nächste große Ding in den sozialen Medien. Besonders viel Aufmerksamkeit bekam in den vergangenen Wochen die App Meerkat. Diese ist mit Twitter verknüpft – wer von seinem iPhone einen Stream startet, sendet eine Nachricht an seine Follower, sodass diese sich zuschalten können. Die an ihrem Erdmännchen-Logo erkennbare App ist so einfach, dass Journalisten, Nerds und Social-Media-Enthusiasten sofort den Download-Button gedrückt haben. Der Journalist Jörgen Comrath bestieg im Beisein zahlreicher Twitter-Follower den Frankfurter Dom. Blogger Richard Gutjahr streamte vor dem Tech-Festival „South by Southwest“ im texanischen Austin erst einmal sein Frühstück.

Ein Knopfdruck und du bist auf Sendung

Gutjahr sagt: „Livestreaming-Apps wie Ustream, Livestream oder Bambuser sind fast so alt wie das iPhone selbst.“ Doch noch nie seien die Funktionen so konsequent und schnörkellos umgesetzt worden: „Ein Knopfdruck und du bist auf Sendung.“ Meerkat machte innerhalb von zwei Wochen einen Sprung auf 120 000 User und hat mittlerweile mehr als 150 000 Nutzer. Gründer Ben Rubin glaubt, dass Meerkat den Journalismus revolutionieren kann. Man stelle sich vor, Medienmacher würden von Demonstrationen, Veranstaltungen oder während der Recherche live ihre Beobachtungen teilen oder Kommentare zu Breaking News senden. Attraktiv ist für viele auch der flüchtige Charakter. Bei Meerkat wird nicht aufgezeichnet, außer, der Sender selbst entscheidet sich dazu. Das erinnert an die App Snapchat, bei der gesendete Nachrichten nach einer bestimmten Zeit wieder verschwinden.

Dabei ist Livestream aber nicht gleich Livestream. „YouNow ist auf ein jugendliches Publikum ausgerichtet – eine andere Zielgruppe als Meerkat, das derzeit vor allem bei Journalisten und unter Innovatoren Aufmerksamkeit erregt“, sagt die Medienpsychologin Sarah Genner. Der Trend zum Livestreaming komme aus den USA. „Er passt zur individualistischen Kultur in den USA, wo man gezielter lernt, sich selbst zu präsentieren.“ Und nun schwappt diese neue Form der Selbstdarstellung also nach Deutschland. Die letzte Barriere, die etwa noch zwischen YouTubern und ihrem Publikum stand, war die Zeit – und diese fällt jetzt. Der Mensch stellt sich unmittelbar, ungeschnitten und ungefiltert ins Internet.

Doch was macht für die Zuschauer den Reiz dabei aus? „Wenn wir live im Fernsehen etwas sehen, erfahren wir einen anderen Kick, als wenn es aufgezeichnet ist. Die Faszination des Unmittelbaren kann sehr stark sein“, sagt Genner. Gleichzeitig habe es für die Zuschauer vor allem bei YouNow etwas Voyeuristisches, wenn sie das Leben in fremden Wohnungen in Echtzeit beobachten könne.

Dabei gibt es gerade bei YouNow für die Zuschauer oft gar nicht so viel zu sehen. 15-jährige Mädchen liegen im abgedunkelten Zimmer auf ihrem Bett, lesen die Kommentare für ihren Stream vor und reagieren darauf. Das hört sich dann so an: „Wie alt bist du? – 17. Hast du einen Freund? – Nein. Zieh dich doch mal aus. – Zieh du dich doch aus!“

Plattform für Musiker und andere Künstler

Ursprünglich war YouNow als Plattform für Musiker und andere Künstler konzipiert. Dass es jetzt vor allem Teenager sind, die sich dort in Selbstdarstellung üben, daran hätte wohl keiner gedacht. Unter den Hashtags #deutsch-girl und #deutsch-boy werden sie auf der Plattform gesammelt. Weltweit hat YouNow mehr als 100 Millionen Nutzersitzungen im Monat. Datenschützer Frank Spaeing hat den Eindruck, dass nicht alle Jugendlichen in vollem Umfang verstehen, was sie da tun. Spaeing ist im Berufsverband der Datenschutzbeauftragten Deutschlands e.V. (BvD) und hat mit seinen Kollegen im Rahmen der Initiative „Datenschutz geht zur Schule“ bereits mehr als 50 000 Schüler für den Umgang mit sozialen Medien sensibilisiert. „Bei YouNow ist es nicht wie auf dem Schulhof, wo der Klassenclown merkt, wer ihm zusieht. Hier kann jeder einschalten“, sagt Spaeing. Doch den Jugendlichen sei die Reichweite oft gar nicht bewusst. Sie gäben teilweise Details von sich preis, die zu sensibel seien, um sie Wildfremden mitzuteilen. So könne beispielsweise der Hintergrund im Livestream Rückschlüsse auf den Aufenthaltsort der Jugendlichen zulassen. Einige geben sogar freiwillig ihre Handynummer heraus. Die Landesanstalt für Medien in Nordrhein-Westfalen warnte bereits vor Cybermobbing und sexueller Belästigung bei YouNow.

Probleme drohen aber nicht nur dort. Wenn ein Journalist per Meerkat live von einer Demo berichtet, sind gleichzeitig andere Menschen im Bild. Spricht er jemanden an, äußert sich diese Person gleichzeitig vor einem Publikum. Was hier mit Persönlichkeitsrechten ist – noch gibt es dafür keine Präzedenzfälle.

Klar ist: Für den Preis der Aufmerksamkeit schaffen viele sendungsbewusste App-Nutzer gerne einen Teil ihrer Privatsphäre ab. „Es sind vor allem die Pfauen unter den Menschen, die Extrovertierten, die für die Reize von Medien wie YouNow anfällig sind“, erklärt Medienpsychologin Genner. Diese finden mit den neuen Diensten einfach eine neue Plattform. „Wenn man Aufmerksamkeit bekommt, sind Belohnungszentren im Gehirn aktiv. Viele Klicks und Likes – das hat Suchtpotenzial.“

Trend zum Live-Streaming

Weil dem so ist, wollen immer mehr Unternehmen auf den Echtzeit-Zug aufspringen. Der Kurznachrichtendienst Twitter hat nun die Streaming-App Periscope gekauft – und anschließend Meerkat einen Dämpfer verpasst. Zwar ist Meerkat weiter an Twitter angedockt, der Zugriff auf die Nutzerdatenbank wurde jedoch eingeschränkt.

Unabhängig davon, wie es mit Meerkat weitergeht, wird sich der Trend zum Livestreaming weiter ausweiten. Science-Fiction weiß schon, wo das endet: In der unheilvollen Zukunftsvision „The Circle“des US-Autor Dave Eggers wird plötzlich jeder gezwungen, sich „transparent“ zu machen – und mit einem Gerät um den Hals sein Leben per Livestream zu verbreiten.

Glossar: User-Generated Content

Die Bezeichnung User-Generated-Content findet Verwendung in Bezug auf virtuelle Inhalte und kann mit „nutzergenerierte Inhalte“ ins Deutsche übersetzt werden. Das umfasst alle digitalen Inhalte, um die sich nicht die Anbieter einer Seite kümmern, beziehungsweise solche Inhalte, die nicht von den Webseiten-Betreibern erzeugt werden. Dazu zählen digitale Inhalte wie Texte, Musik oder Fotos einer Website. Wichtig ist, dass diese digitalen Inhalte eine eigene kreative Schöpfung der Nutzer sind und nicht zwangsläufig bestimmten professionellen Standards folgen. Es sind aber nur rund ein Prozent aller Internetnutzer so genannte „Creators“. 90 Prozent sind „Lurkers“, also solche, die nur gucken. Neun Prozent aller User schreiben immerhin regelmäßig Kommentare auf Webseiten oder Blog-Einträge. (meh)

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