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Die überfüllte Halle 1 der re:publica.

© Copyright: republica/Gregor Fischer

Was bleibt von der re:publica?: Die neue Mengen-Lehre

Nach der re:publica beginnt das Sortieren: Welche Impulse hat die Konferenz gegeben, was bleibt hängen – und wie sehen die Debatten der kommenden Monate aus? Zehn Erkenntnisse.

Die achte re:publica ist zu Ende, ihre Veranstalter müssen jetzt Schlaf nachholen. Alle anderen können sich daranmachen, aus der schieren Flut der Informationen und Meinungen das Substanzielle herauszufiltern. Ballaballa-Thesen von Sinnvollem zu unterscheiden. Was war bloß Quatsch, was wird nachwirken? Ein Überblick.

1. Sehnsucht nach Vergänglichkeit. Zu den Kerneigenschaften des Internets gehört ja, dass es nicht vergisst, einmal Eingetipptes auf ewig archiviert. Wie praktisch, sagen manche. Andere fürchten die eigenen Spuren. Deshalb wächst der Wunsch, das Netz auszutricksen: Mit Apps wie „Snapchat“, „Confide“, „Wickr“ oder „Efemr“ lassen sich Nachrichten verschicken, die sich nach einer vorher festgelegten Zeit von selbst zerstören. Der Konzern Boeing entwickelt gar ein Smartphone, das selbstständig alle Daten löscht, sobald es als gestohlen gemeldet wird. Aber auch die Gegenseite schläft nicht. Inzwischen sind bereits 20 Apps erhältlich, deren einzige Funktion es ist, von Snapchat-Nachrichten vor der Selbstzerstörung noch schnell einen Screenshot zu machen, um sie dann eben doch für die Ewigkeit zu dokumentieren.

2. Ein Wort wird rehabilitiert. Was wurde Angela Merkel niedergemacht, als sie die zögerliche Reaktion der Bundesregierung auf die Snowden-Enthülllungen im Juni 2013 mit dem Satz kommentierte, das Internet sei „für uns alle Neuland“. Zehn Monate später hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Kanzlerin so falsch nicht lag. Dass selbst diejenigen, die sich im Internet schon ewig zu Hause fühlen, kaum konkrete Antworten auf die drängenden netzpolitischen Fragen haben – oder gar einen Plan, wie man Lösungsansätze auch durchsetzen kann. Blogger Felix Schwenzel bringt es auf den Punkt: „Wir haben keine Ahnung, wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen.“

3. Es muss etwas geschehen, oder? Es war die re:publica der Handlungsaufträge. Kaum ein Referent entließ seine Zuhörer ohne Imperativ. „Geht auf die Straße!“, „Spendet Geld!“, „Poetisiert euch!“. Erfrischend gegen den Strich bürstete da nur Holm Friebe, der die von ihm konzipierte Stein-Strategie vorstellte: Im Zweifel einfach mal innehalten und abwarten. Bloß keinen übertriebenen Aktionismus zeigen! Holm verwies auf Erkenntnisse aus der Sportwissenschaft: Statistisch gesehen würde ein Fußballtorwart deutlich mehr Elfmeter halten, bliebe er einfach in der Mitte stehen. Dass der sich dennoch stets in eine Ecke wirft, liege nur daran, dass Herumspringen zu seiner Jobbeschreibung gehöre und somit erwartet werde. Geht’s schief, trifft ihn keine Schuld. Es lohnt sich, den Gedanken nicht gleich abzutun. Einfach mal sacken lassen.

4. Überschriften aus der Hölle. Wenn die Netzgemeinde etwas hasst, tut sie es leidenschaftlich. Neuer Lieblingsfeind ist das sogenannte „Clickbait“, also der Versuch von Seitenbetreibern, durch extrem vage, Sensationen versprechende Überschriften Aufmerksamkeit zu generieren. Mit „heftig.co“ ist diese Unkultur nun auch in Deutschland angekommen. Die Plattform lockt mit Titeln wie: „Ein Mann hat Fotos von einem Flugzeug aus aufgenommen. Was er gesehen hat, ist unglaublich.“ Oder auch: „Nach diesen 22 Fotos von berühmten Orten wirst du sie nicht mehr mit denselben Augen sehen.“ Die Geschichten dahinter enttäuschen oft, was Leser nicht davon abhält, beim nächsten Mal trotzdem draufzuklicken. Sensationell ist bei „heftig.co“ eigentlich nur der Erfolg: Aus dem Nichts ist die Seite an die Spitze der deutschen Klickgiganten gesprungen, liegt jetzt vor „Spiegel“ und „Bild“. Sollte der Trend anhalten, wird das auch bei klassischen Nachrichtenportalen Spuren hinterlassen. Dann heißt es: „Was Wowereit jetzt wieder verzapft hat, wird Sie krass aus den Socken hauen.“

5. Unverhoffte Demut. Netzmenschen wird gern Arroganz und Besserwisserei unterstellt. Das Gegenteil ist richtig. Auf die re:publica wurde extra ein Zwölfjähriger geladen – und mit Fragen bombardiert, wie er selbst und seine Mitschüler denn mit dem Internet umgingen. Anderswo wurde diskutiert, was Desinteressierte wohl vom Internet fernhält. Der Netzgemeinde Sektenhaftigkeit zu unterstellen, ist entweder ignorant oder böswillig. Welche Sekte plädiert denn bitte ständig dafür, mehr auf die Ungläubigen zu hören?

6. Die Revolution hat erst begonnen. Während sich die Öffentlichkeit auf die Markteinführung von „Google Glass“ vorbereitet und darüber streitet, ob diese die Menschheit nun voranbringen oder endgültig in den Untergang treiben wird, basteln die Kreativen schon an den nächsten und übernächsten Mensch-/Technik-Verknüpfungen. Auch in Deutschland. Im Rahmen der re:publica wurde das Konzept einer Kamera vorgestellt, die den Puls ihres Trägers misst: Bei Aufregung löst sie automatisch aus. So ist sichergestellt, dass man von allen seinen Schrecksekunden, ersten Küssen und Treppenstürzen die passenden Schnappschüsse erhält. Könnte ein Gamechanger werden.

7. Die Leichtigkeit des Untertauchens. Anonymes Surfen ist kein Privileg der Profis. In drei Minuten kann jeder lernen, wie sich das Sicherheitssystem „Tor“ nutzen lässt. Anleitungen gab’s auf der re:publica, stehen aber auch im Netz. Das Beste: Laut Experten wie Jacob Appelbaum ist die Technik so sicher, dass selbst Geheimdienste machtlos sind. Das gilt natürlich nur, bis das Gegenteil enthüllt wird.

8. ADAC als Vorbild. In sehr wenigen netzpolitischen Fragen herrscht Einigkeit. Im Grunde nur darüber, dass es einer schlagkräftigen Interessenvertretung bedarf. Manche sagen, man solle bestehende Strukturen wie den Verein Netzpolitik oder die Digitale Gesellschaft stärken. Andere glauben, das sei viel zu klein gedacht: Was es brauche, sei eine Lobby-Organisation, die auch gehört wird, wenn sie spricht. Eine Art ADAC der Internetnutzer. Natürlich ohne die gefälschten Umfragen.

9. Die Netzgemeinde ist hochmoralisch. Die re:publica hat gezeigt, wie wichtig der Netzgemeinde Werte und Ethik sind. Laura Sophie Dornheim hat sogar die Todsünden des digitalen Zeitalters durchdekliniert, von Neid (meine Schwester hat mehr Follower als ich) bis Völlerei (stundenlanges Tumblr-Klicken). Weit vorn natürlich die Faulheit: Ganze Schulklassen vernetzen sich inzwischen über abgeschottete Whatsapp-Gruppen und tauschen so Hausaufgaben aus. Einer muss hochladen, der Rest schreibt ab. Wie ärgerlich, dass man selbst in der Prä-Internet-Ära aufwuchs (Neid!). Nicht als Sünde, auch darüber bestand weitgehend Einigkeit, gelten übrigens Pornokonsum und der Gebrauch der geschmacklosen Schriftart Comic Sans MS.

10. Herzensangelegenheiten. Die digitale Revolution wirft zwischenmenschliche Fragen auf, die soziologische Feldforscher, Therapeuten und Etikette-Ratgeber noch lange beschäftigen werden. Zum Beispiel der Themenkomplex, den die Stuttgarter Bloggerin Eva Horn am letzten re:publica-Tag ansprach: „Das Entlieben in Zeiten des Internets“. Früher mussten Frischgetrennte, die vorläufig keinen Kontakt haben wollten, nur aufpassen, dass sie sich nicht zufällig auf der Straße begegnen. Heute müssen sie zusätzlich gegen Facebook-Algorithmen ankämpfen. Kann ein Auseinanderleben funktionieren, wenn man in zehn verschiedenen sozialen Netzwerken miteinander befreundet ist? Die Antwort ist unklar. Aber gut, dass wir jetzt die Frage kennen.

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