zum Hauptinhalt
Die Indigenen Kanadas wollen mit der Natur und ihren Ressourcen leben, nicht gegen sie.

© Barbara Walton, dpa

Umweltforschung Potsdam: „Mit der Natur leben, nicht gegen sie“

Die Potsdamer Nachhaltigkeitsforscherin Kathrin Stephen erklärt im PNN-Interview, wie das Wissen der Indigenen dabei helfen kann, Umweltprobleme zu bewältigen.

Frau Stephen, Sie hatten unlängst ein Treffen mit der kanadischen Forscherin Jocelyn Joe-Strack. Es ging darum, wie indigenes Wissen der Klimaforschung in der Arktis helfen kann. Mit welchem Ergebnis?

Es ging darum, wie unterschiedliche Formen des Wissens zusammenkommen können. Jocelyn Joe-Strack hat selbst indigene Wurzeln und ist gleichzeitig Wissenschaftlerin. Sie ist damit stark ihrer Herkunft und Tradition verhaftet. Die Frage ist, wie unterschiedlich Formen des Wissens zusammengehen können – aber auch wie es nicht funktioniert. Bei uns hat bisher die Forschung die harten Daten gesammelt und analysiert, um dann der Öffentlichkeit zu erklären, wie die Welt funktioniert. In Zeiten der zunehmenden Verbindung von wissenschaftlichen Disziplinen und dem Austausch von wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren zur gemeinsamen Problem- und Lösungsfindung ist der althergebrachte wissenschaftliche Ansatz, wie oben beschrieben, derzeit im Umbruch. Bei Joe-Strack geht es sogar noch einen Schritt weiter: Neben der Interaktion von verschiedenen Wissenssystemen will sie und ihr Volk ihre Art zu sein zurückgewinnen – im Sinne einer ganzheitlichen Verbindung mit der Natur.

Kathrin Stephen vom Potsdamer Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS).
Kathrin Stephen vom Potsdamer Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS).

© IASS, Lotte Ostermann

Wie kann das denn zusammengehen?
Viele indigene Völker, so wie das Volk der Champagne und Aishihik First Nation in Kanada, dem Joe-Strack angehört, sind aktuell dabei, ihre Herkunft überhaupt erst wiederzuentdecken. Aufgewachsen sind die meisten mit unserer westlichen Kultur. Nun gibt es eine Rückbesinnung auf die Tradition, die ein engeres Verhältnis zu Natur und Tieren umfasst und Hierarchien ausschließt. Gleichzeitig ist Joe-Strack dabei, als Doktorandin der University of Saskatchewan einen Flächennutzungsplan für ihr Volk zu entwickeln. Da die Nutzungsrechte für das Land häufig bei den indigenen Völkern selbst liegen – eine politische Errungenschaft, die nur wenige indigene Völker weltweit teilen – obliegt ihnen damit auch die Verantwortung, das Land gut zu bewirtschaften. Gute Planung ist dabei vonnöten.

Zum Beispiel?
Das zeigt etwa der Konflikt um ein Wasserkraftwerk im traditionellen Gebiet der Champagne und Aishihik First Nation. Der Betreiber des Wasserkraftwerks Yukon Energy wendet wissenschaftliche Kriterien an, um den Gesundheitszustand des Sees zu bestimmen, aus dem das Kraftwerk gespeist wird, etwa in Bezug auf die Anzahl der Fische. Laut diesen Daten ist der See gesund. Die ansässige indigene Bevölkerung ist jedoch der Überzeugung, dass der See erheblich unter den Auswirkungen des Kraftwerks leidet und stützt dies auf ihre eigenen Erfahrungen und Beobachtungen der Natur. Die Indigenen sind der Auffassung, dass die Erde zu komplex ist, als dass man sie allein mit Zahlen verstehen kann. Das ist für unsere Forscherkollegen oft etwas ganz Neues; schließlich basiert unsere Forschung zu erheblichen Teilen auf Datenerhebungen.

Wie denn auch ohne, durch Schamanismus oder Naturbeobachtungen?
Tatsächlich zum Beispiel durch Beobachtungen – und durch die Erfahrung mit und in der Natur zu leben. Zusammen mit dem, was sie von den Vorfahren vermittelt bekommen haben. Was heißt es etwa, wenn ein Wald oder ein See krank ist, wie sieht das aus? Sie haben Erfahrungswissen darüber, was sich ändert in der Umwelt. Man muss natürlich auch sehen, dass traditionelles Wissen irgendwann auch nicht mehr passen kann, gerade in einer Welt, die sich so schnell verändert. Am Ende müssen sich alle Wissensformen anpassen. Interessant ist hierbei vor allem, dass Indigene häufig einfach andere Fragen stellen als Wissenschaftler. Sie fragen nicht etwa: „Ist der See krank?“; sie fragen vielmehr: „Kommen wir unseren Pflichten als Verwalter des Landes nach?“ Im Vordergrund stehen damit nicht Besitz und Kontrolle, sondern Fürsorge und Pflichterfüllung.

Sind Naturbeobachtung letztlich nicht auch eine Form von Wissenschaft, wenn ich beispielsweise den Zustand des Waldes betrachte oder die Anzahl von Tierpopulation vergleiche?
Hier sind die Grenzen tatsächlich fließend. Gerade diese Überschneidungen machen das Zusammenspiel der beiden Seiten so spannend. Es geht stark um inter- und transdisziplinäres Arbeiten und darum, die betroffenen gesellschaftlichen Akteure in den Forschungsprozess miteinzubeziehen, damit die Ergebnisse auch wirklich genutzt werden können. Ein Argument der Indigenen ist aber, dass nicht alles mit Zahlen zu erfassen ist. Die Fakten können sich auch widersprechen, das erfordert eine große Offenheit. Darüber hinaus darf man indigene Völker aber auch nicht nur als kategorische Naturschützer verstehen. Sie wollen auch Entwicklung, inklusive wirtschaftlicher Investitionen. Im Yukon haben die indigenen Völker bereits eine sehr gute Position erreicht und verhandeln selbst mit interessierten Unternehmen, wie beispielsweise zur Gewinnung von Bodenschätzen auf ihrem Land. Sie haben Landrechte für Jahrzehnte, ihnen gehört das Land, auf dem sie leben. Das bedeutet aber auch eine große Verantwortung dafür, was mit dem Land gemacht wird.

Was charakterisiert das indigene Wissen?
Es geht hierbei viel um die Harmonie des Menschen mit Natur und Tieren. Häufig hat noch die Generation der Großeltern mit Tieren zusammengelebt und alle waren gleichwertige Mitglieder der Familie. Man hat sich auch vorgestellt, dass man mit den Tieren in der Wildnis leben kann. Menschen haben Tiere auch geheiratet, Kinder sind mit Tieren in die Natur gezogen – und kamen dann später zum Volk zurück. Die Idee, dass einem Land gehört, gab es nicht. Man hatte vielmehr eine Sorgfaltspflicht, konnte den Boden aber nicht besitzen. Im Laufe der, noch heute andauernden, Verhandlungen über Landbesitz mit staatlichen kanadischen Behörden mussten sich die indigenen Völker erst einmal an diesen ihnen völlig fremden Gedanken gewöhnen. Denn im westlichen System geht es in erster Linie darum, wem was gehört.

Es ist eine Rückbesinnung, wo man herkommt. Ziel ist, wieder mit der Natur und nicht gegen sie zu leben.

Kathrin Stephen

Was sind die Probleme vor Ort?
Im Yukon scheint weniger Landraub ein Problem zu sein, sondern die Frage, wie man die Dinge gut managen kann. Wenn eine Bergbaufirma anklopft, soll man die eigenen Rechte auch gut umsetzen können. Änderungen des Klimas sind für die Indigenen nichts Neues; ihr Volk habe schon immer Änderungen mitgemacht und sich anpassen müssen, sagt Joe-Strack. Neu ist für die Indigenen hingegen, dass sie den Kontakt zur Umwelt verloren haben, da sie den westlichen Lebensstandard angenommen haben – heute fahren alle mit dem Auto und trinken aus Plastikbechern. Nun erkennen sie aber, dass das ein Problem ist. Es geht ihnen jetzt um eine Änderung von Normen und Werten – das geht schon in Richtung Kapitalismuskritik, dass wir einfach im falschen System leben. Es ist eine Rückbesinnung, wo man herkommt. Ziel ist, wieder mit der Natur und nicht gegen sie zu leben. Die Diskussion haben wir ja auch aktuell: dass wir abgekommen sind von unseren Ursprüngen, dass wir die Fähigkeit zur Anpassung verloren haben, als wir den Lebensstandard der Konsumwelt angenommen haben.

Also doch zurück in die Höhle?
Da werden wohl wenige mitmachen und auch indigene Völker haben mittlerweile Lebensstandards angenommen, die sie, verständlicherweise, nicht wieder aufgeben wollen. Mit dem von Joe-Strack erwähnten notwendigen Wertewandel würden wir auch weit kommen, denke ich, beispielsweise in Bezug auf die Abkehr vom „ewigen Wirtschaftswachstum“. Technologische Innovationen können auf dem Weg zu nachhaltigeren Gesellschaften sicher helfen, aber ohne einen grundlegenden Wertwandel in Bezug auf Wirtschaft, Konsum und Ressourcen werden wir den Herausforderungen von Klimawandel, Globalisierung und Umweltzerstörung wohl nicht beikommen.

Wie wird indigenes Wissen nun nützlich?

Joe-Strack gibt mit ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin und Unternehmerin sowie gleichzeitig als Mitglied ihres Volkes ein gutes Beispiel hierfür. Im Zentrum ihres Wissensverständnisses steht, dass Wissenswelten überbrückt und wissenschaftliche Fragen gestellt werden sollen, die den Menschen auch etwas bringen. Es geht nicht um robuste Zahlen, sondern darum wie man den Menschen im Yukon helfen kann. Das trifft sich mit der Feststellung, dass wir heute noch immer nicht ausreichend in der Lage sind, als Wissenschaftler über die Disziplinen hinweg zu arbeiten und in die Gesellschaft hinein zu wirken. Weder in der Schule noch an der Universität wird das früh genug und in ausreichendem Maße vermittelt. Es bräuchte einen ganz anderen Ansatz, um diese Fähigkeiten zu fördern – nicht das übliche Learning by Doing, sondern einen systematischen Ansatz.

Also auch bei uns Nachholbedarf?
Wenn es um Nachhaltigkeit und gute Politik geht, müssten wir die Dinge in Wissenschaft und Politik anders angehen. Aber eigentlich sind wir darauf nicht gut vorbereitet – weil wir da viel zu spät hinkommen. Nehmen sie beispielsweise die Energiewende: Allen ist klar, dass wir sie brauchen, aber an der Umsetzung hapert es. Ohne gesellschaftliche Akzeptanz kann man nicht einfach überall Windräder aufstellen, selbst wenn sie wichtig sind für die Bekämpfung des Klimawandels. Man darf ein solches Unterfangen nicht nur technokratisch angehen, sondern muss die Menschen im Prozess mitnehmen und ihre Bedürfnisse und Sorgen ernst nehmen. Und das muss auch in der Ausbildung vermittelt werden. Ein Ingenieur lernt in seiner Ausbildung nach wie vor, wie man ein gutes Windrad baut – aber wie das in der Gesellschaft akzeptiert werden könnte, davon erfährt er nichts.

Sie meinen ein grundlegendes Umdenken?
Die Absicht mag noch so gut sein, aber wenn der Prozess nicht stimmt, kommen wir nicht weiter. Manche Wissenschaftler wundern sich, wenn sie mitbekommen, dass es beim Klimaschutz auch um Gerechtigkeit gehen soll. Das wird dann häufig als nur noch ein weiteres Problem gesehen, um das wir uns noch kümmern müssen; als ob die Aufgabe der Klimawandelbekämpfung nicht schon groß genug wäre. Sie wollen in erster Linie den Klimawandel bekämpfen, neue Technologien entwickeln und umsetzen, sehen aber nicht, dass das ohne einen gerechten Prozess nicht geht. Sonst machen die Menschen nämlich nicht mit. Zudem verschärfen wir so bereits bestehende Ungerechtigkeitsverhältnisse innerhalb von Gesellschaften und zwischen armen und reichen Ländern.

Wozu nutzt Ihnen der Austausch mit der indigenen Kultur als Wissenschaftlerin?
Das sind die Kontakte, die ich immer suche. In meiner Arbeit geht es viel um Transdisziplinarität, um die Zusammenarbeit mit vielen gesellschaftlichen Akteuren, um verschiedene Wissensformen – insofern können wir von dem indigenen Ansatz viel lernen. Wir haben aktuell ein Konzept zur Zukunft der russischen Yamal-Region entwickelt; das ist die öl- und gasreichste Region Russlands. Hier gibt es natürlich auch ein hohes Potenzial für nicht nachhaltige Entwicklung. Wir haben Bewohner, Entscheider und Wirtschaft zusammengebracht und Szenarien entwickelt, wie die Region 2040 aussehen könnte – und wie man sich als Stakeholder darauf vorbereiten kann.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

Zur Startseite