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Esther Bejarano, Künstlerin und Auschwitz-Überlebende, zu Gast bei Anne Will

© dpa/NDR/Wolfgang Borrs

TV-Talk "Anne Will" zum Holocaust-Gedenken: "Mit Pflicht kann man das nicht machen"

Bei Anne Will schildert die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano Gästen und Zuschauern die Grauen der Konzentrationslager. Ein Pflicht für Besuche in Gedenkstätten lehnt aber auch sie ab.

Sie hätte der einzige Gast sein können. Esther Bejarano, 93 Jahre alt, Musikerin, Antifaschistin, Überlebende von Auschwitz und Ravensbrück. Und dann hätte sie erzählt, nur erzählt. Von früher, wie alles anfing, von den Nazis, von der Mutter, die raus wollte aus Deutschland, und dem Vater, der optimistisch war. Hitler werde sich nicht lange halten, sagte der, die Deutschen würden das nicht erlauben. Sie erlaubten es aber. Viel zu lange.

In Auschwitz gelang es Esther Bejarano, als Akkordeonspielerin ins Mädchenorchester aufgenommen zu werden. Das Prüfungsstück: „Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami!“ Das hatte sich die Klavierspielerin erst wenige Minuten vorher selbst auf dem Akkordeon beigebracht. Eine SS-Frau aus Saarbrücken sei auch im Orchester gewesen. Die sei sehr menschlich gewesen, „von der hatten wir nichts zu befürchten“.

Holocaust-Gedenken - wie antisemitisch ist Deutschland heute? Das war das Thema der Sendung von Anne Will. Die Gespräche waren im besten Sinne anekdotisch, suchend, analytisch, es gab keinen Raum für Polarisierung, Streit, Krawall. Gut so. Gleich zu Anfang – und gebührend ausgiebig – setzte Esther Bejarano die Akzente. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging sie nach Palästina/Israel, kehrte in den sechziger Jahren mit ihrem Mann, einem Israeli, nach Deutschland zurück, „meine Staatsangehörigkeit hatte ich ja noch“. Der Mann wollte nicht zum Militär, sie vertrug das Klima nicht. Erfrischend unideologisch wirkte das. Seitdem ist sie Zeitzeugin, redet über die Vergangenheit, warnt vor Antisemitismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit in der Gegenwart.

Schwieriger Übergang in den Talk

Da ist kein Platz für feine Differenzierungen oder besserwisserische Einwände. Na klar, es gab auch andere Massenverbrechen als den Holocaust und andere Opfer als die Juden. Na klar, nicht alle Deutschen waren Antisemiten, und an der Ermordung der Juden waren nicht nur Deutsche beteiligt. Aber all das ändert nichts am historischen Faktum: Es waren Deutsche, die den Holocaust befehligten, und dessen Opfer waren vornehmlich Juden, sechs Millionen.

Es fiel schwer, aus der Spannung, die Esther Bejaranos Geschichten erzeugten, ins Talkshow-Format zu wechseln. Wie antisemitisch ist Deutschland denn nun heute? Die Umfragen pendeln zwischen 15 und 30 Prozent der Bevölkerung mit antisemitischen Tendenzen, damit liegt Deutschland europaweit irgendwo im Mittelfeld, 78 Prozent der hier lebenden Juden meinen, der Antisemitismus habe in den letzten Jahren zugenommen. Wenzel Michalski, Direktor von Human Rights Watch Deutschland, sagt, der Judenhass sei im Alltag angekommen, und er berichtet von seinem Sohn, der an einer Berliner Schule das Opfer antisemitischer Übergriffe von Mitschülern „türkischer und arabischer Abstammung“ geworden sei.

Julius H. Schoeps, Historiker und Politikwissenschaftler aus Potsdam, meint, der Antisemitismus sei ein integraler Bestandteil der deutschen Kultur. „Es ist alles zu jeder Zeit wieder möglich.“ Monika Grütters wiederum, CDU-Staatsministerin für Kultur und Medien, weist auf die 5,5 Millionen Gedenkstätten-Besucher hin sowie auf die Parlaments-Initiative, einen Antisemitismus-Beauftragten zu ernennen. Da schwingt ein kräftiges „Immerhin“ mit.

Debatte um Pflichtbesuche in KZ-Gedenkstätten

Gewissermaßen der Auslöser für die gesamte Runde war allerdings die Anregung von Sawsan Chebli (SPD), Berlins Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement, den Besuch einer KZ-Gedenkstätte für Deutsche und alle anderen Menschen, die dauerhaft hier leben, zur Pflicht zu machen. „Jeder, der hier lebt, muss sich mit der Geschichte auseinandersetzen.“ Diesem Vorschlag konnte freilich keiner der Mit-Diskutanten viel abgewinnen. „Mit Pflicht kann man das nicht machen. Das muss von Innen heraus kommen“, erwiderte Esther Bejarano.

Nur am Rande gestreift wurde in diesem Zusammenhang die Frage, wie groß der Anteil von arabisch-muslimischen Migranten und Flüchtlingen am Anstieg des Antisemitismus ist. Chebli bejahte, dass es unter Migranten und Geflüchteten Antisemitismus gebe, wies aber darauf hin, dass das Gros der antisemitischen Straftaten weiterhin von rechts begangen werde. Außerdem: „Da, wo Antisemitismus herrscht, gibt es oft auch Islamfeindschaft und Rassismus.“

In dem Moment indes war die Zeit um, und das Schlusswort gehörte Esther Bejarano. Was passiert, wenn die letzten Zeitzeugen sterben, wird sie gefragt. Und sie antwortet mit den Worten einiger Schüler, vor denen sie gesprochen und aus ihrem Leben, von ihrem Schicksal,  erzählt hatte: „Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt, erzählen wir Ihre Geschichte.“

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