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Wie umgehen mit der Türkei? Anne Will und ihre Gäste

© dpa/NDR/Wolfgang Borrs

TV-Talk "Anne Will" zu Deniz Yücel: Die Frage nach dem Preis der Freiheit

Die Gäste von Anne Will diskutieren den Umgang mit der Türkei nach der Haftentlassung von Deniz Yücel. Das Fazit: Zwischen Idealismus und Realismus gibt es keinen einzig richtigen Weg.

Von Caroline Fetscher

Viele trommelten für seine Freilassung. Auch der Tagesspiegel hat täglich an den Inhaftierten erinnert. Jetzt hat Deniz Yücel die Haftanstalt in Istanbul verlassen, in der ihm ein Jahr seiner Freiheit gestohlen wurde. Und nun trommeln die Talkshows, wie sollte es anders sein, Gesprächsrunden zum Thema zusammen. „Deniz Yücel ist frei - was bedeutet das für das Verhältnis zur Türkei?“ fragte Anne Will am Sonntagabend. Yücel selber war nicht erschienen. Ein fröhliches Foto zeigte ihn am Samstag zusammen mit Freunden in südlichem Ambiente, im Hintergrund Zypressen. Er feiert seine Freiheit, bestimmt das Beste, was er im Moment machen kann.  

Ulf Poschardt, Chefredakteur von Yücels Arbeitgeber „Die Welt“, beklagte, dass die türkischen Behörden humorlos genug waren, einen in der Zeitung kolportierten Witz aus der Türkei zum Anlass für den Verdacht auf Terrorismus zu nehmen. Freigelassen, aber nicht freigesprochen sei Yücel nun, wie bitter das sei, fragte Anne Will. 

Für Poschardt steht die Freude im Vordergrund. Doch Dutzende sitzen noch unschuldig hinter Gittern – die „Welt“ will jetzt unter dem Motto „Free them all!“ täglich einen in der Türkei Inhaftierten vorstellen.

Peter Steudtner, der als Menschenrechtsaktivist ab Juli 2017 ebenfalls einige Monate in türkischer Haft verbracht hat, vertrat quasi die Hauptperson Yücel. Er ist ebenfalls freigelassen, aber nicht freigesprochen, und andere wie er sitzen noch ein. Das erlaube kein völlig befreites Gefühl. Solidarisch weiterkämpfen ist sein Motto. 

Zum politischen Hintergrund befragte Will Michael Roth (SPD), der als Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt in die diplomatischen Bemühungen eingebunden war, die Befreiung von Deniz Yücel zu erwirken. „Tragt zur Verfahrungsbeschleunigung bei!“, war die Hauptforderung des Außenministeriums. Wenn sich die türkischen Gerichte als „unabhängig“ bezeichnen, gebe er nur wieder, sagte Roth, für den es auch kein Geheimnis ist dass es in der Türkei „schlecht steht“ um Demokratie und Meinungsfreiheit“. 

Äußerst kritisch betrachtete Sevim Dagdelen, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken, den gesamten Vorgang Yücel, bei aller Freude über dessen Freiheit.  Etwa 150 Journalisten sitzen in türkischen Gefängnissen, deren Verhaftungen ebenso Ausweis für den Verfall des dortigen Rechtsstaats seien, wie die Freilassung. Beides geschieht in juristischer Willkür – und mit politischer Absicht. Erdogan habe zweifelsfrei Bedingungen an die Freilassung knüpfen wollen.

Keinen Zweifel daran hat auch Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages. Hier im Land, erklärte Röttgen, sei man frei genug und dürfe die Wahrheit sagen. Im Fall Yücel seien schlicht „die politischen Kosten zu hoch“ geworden für die Türkei, das Öffnen der Gefängnistore in Istanbul sieht Röttgen als „Inszenierung“.  

Grundkurs in Realismus

Deniz Yücel hatte keine Absicht, eine Geisel des türkischen Staates zu werden. De facto wurde er dazu gemacht. Ein Jahr lang war der deutsche Journalist in Istanbul in ein Gefängnis gesperrt, ohne dass auch nur eine Anklage gegen ihn vorlag. Es hieß, er habe Kontakte zu kurdischen Kritikern der Regierung gehabt. Solche gelten in der Demokratur von Präsident Erdogan generell als staatsgefährdende Subjekte. Doch Reporter im Ausland müssen Kontakte zu möglichst allen Gruppen und Milieus knüpfen, um gute Arbeit zu machen. Nichts anderes tat Yücel.

Nichts anderes taten auch die 150 weiteren Journalisten hinter türkischen Gittern, an die Anne Will mit einem Kurzfilm erinnert. Die Bilder von Mauern und Stacheldraht wiederum erinnern daran, dass es die Verve mit der Medien jetzt ebenso wie Amnesty International an unschuldig Eingesperrte erinnern, kaum  gäbe, wäre nicht einer von ihnen der Betroffene gewesen. Trübe genug sind türkisch-deutsche Themen, die über die berechtigte Freude an Yücels Freiheit hinausweisen.

Wurde der Türkei, die deutsche Rüstungsgüter kaufen und ihre Leopard II Panzer modernisieren will, ein „Deal“ angeboten, wie Deniz Yücel ihn, noch in Haft, für sich abgelehnt hat? Und wenn ja, was wäre dann? „Das wäre für Deniz schrecklich“, glaubt Ulf Poschardt, „der wäre in der Zelle geblieben.“ Poschardt räumt jedoch ein, er habe im Lauf des Jahres, in dem Yücel festgehalten wurde, „hohen Respekt vor Realpolitik bekommen“. Das Verhandeln mit Autokraten, das Behandeln von Autokraten muss offenbar zwischen Druck und Diplomatie changieren, das wurde vielen klarer. Für viele Beteiligte war die Causa  Yücel offenbar ein wichtiger „Grundkurs Realität und Realismus“.

Michael Roth hat viel Anschauung und „keinerlei Illusionen“ in Bezug auf die Türkei von 2018: „Meilenweit von Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit entfernt.“ Sevim Dagdelen sieht „genug Hinweise“ darauf, dass zumindest indirekt ein Deal eine Rolle spielte bei der türkischen Entscheidung zur Freilassung von Yücel. Erdogan, so Dagdelen, handle „nicht aus Liebe zur Humanität“. Einen direkten Kontext, ein Preisschild auf der Geisel, werde man aber wohl nicht nachweisen können. Entschieden beharrte Michael Roth: „Es gibt keinerlei Absprachen!“ Es gebe allein die Bereitschaft sich besser mit der Türkei zu verständigen. An den restriktiven Richtlinien für Rüstungsexporte werde sich nichts ändern.

Kontakte sind notwendig

Alle in der Runde wissen, dass der Nato-Partner Türkei mit Panzern aus deutscher Produktion in Nordsyrien ausgerechnet kurdische YPG-Milizen bekämpft, die maßgeblich zum Sieg über die Terrormiliz IS beitragen, unterstützt vom Nato-Mitglied USA. Indes hofft Ministerpräsident Binali Yildirim auf deutsche Beteiligung am Bau des Kampfpanzers „Altay“ für die türkische Armee. Keiner in der Runde wagte eine Patentlösung für die aktuellen Dilemmata vorzutragen – allenfalls Steudtner, der Pazifist. „Verantwortungslos“ findet er „jede Art des Waffenexports“. Beim Verkauf könne man nie wissen, wer die nächste oder übernächste Regierung eines Handelspartners stellt, die dann die Rüstungsgüter in Händen hat. Großer, fast erleichterter Applaus für den klarsten Vorschlag - jenseits der Realpolitik.

In Verbindung bleiben müsse man auch mit unliebsamen Regierungen, erklärt Michael Roth mit dem berühmt-berüchtigten und bitter-richtigen, Argument, man könne sich die Gesprächspartner nicht aussuchen. Begegnungen müsse es aber auf allen Ebenen geben, auch wirtschaftlich, sportlich, kulturell. Darin ist er sich sogar mit Peter Steudtner einig, der gerade die niederschwelligen Kontakte für wertvoll hält.    

Aber wer reist jetzt als Menschenrechtler oder Journalist ohne Sorge in die Türkei, selbst wenn es nur um ein Konzert oder eine Ausstellung geht? Abertausende Touristen trauen dem Urlaubsland nicht mehr. Will man am Strand in der Sonne liegen oder den Topkapi-Palast bestaunen, während in der Nähe Leute in Haftzellen ausharren, weil sie ein „falsches Wort“ gesagt, eine „falsche Person“ getroffen haben? In München beschwerte sich gerade erst die türkische Delegation der Sicherheitskonferenz, sie müsse das Hotel mit einem „Terrorist“ teilen – gemeint war Cem Özdemir, ein Abgeordneter des Bundestags.

Zur tristen Ironie des aktuellen deutsch-türkischen Szenarios gehört die Tatsache, dass der zerfallende Rechtsstaat Türkei während des NS-Unrechtregimes ein Zufluchtsland für Deutsche war. Dort wuchs unter anderem Edzard Reuter auf, der an just dem Tag, als Yücel aus der Haft entlassen wurde, neunzig wurde. Sein Vater, Ernst Reuter, fand als verfolgter Sozialdemokrat im Juni 1935 in Ankara Asyl und Arbeit in türkischen Ministerien. 1948 wurde er erster Regierender Bürgermeister Berlins. Aus dem sicheren Ankara schrieb Ernst Reuter 1943 an Thomas Mann im kalifornischen Exil, er fürchte „die vollständige Vernichtung“ aller „anders denkenden Kräfte“ in Deutschland. Heute wird hier um die Andersdenkenden in der Türkei gebangt.    

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