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Studium anno 1958: Für die sozialistische Persönlichkeit

Mit Arbeitseinsätzen an der Hochschule, beim Schulbau und der Obsternte sollten Studierende erzogen werden.

Unsere durch Spiel und Sport, Kultur und Kunst angefüllte studentische Freizeit (PNN vom 10.01.2018) wurde wiederholt durch geforderte „gesellschaftlich nützliche Arbeit“ unterbrochen. Mit diesem Begriff, der formal ein unnützes Pendant impliziert, bezeichnete man praktische Arbeitseinsätze, die an der Hochschule und im Stadtgebiet, vor allem aber in Industrie- und Landwirtschaftsbetrieben geleistet werden sollten. Dazu erklärte PH-Rektor Günter Scheele in einem Interview für die „Hochschulnachrichten“ zu Beginn des Frühjahrssemesters 1959, „daß gesellschaftlich nützliche Arbeit ein sehr wichtiges Erziehungsmittel ist“, welches die Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten positiv beeinflusst und der Stärkung des Sozialismus dient. Letzteres kommt auch in einem Passus der abzugebenden Verpflichtung zum Ausdruck, worin es unter anderem heißt: „Während meines Studiums werde ich am sozialistischen Aufbau in Industrie und Landwirtschaft tatkräftig mitwirken“.

Weil die Spuren der Kriegshandlungen auf dem Hochschulgelände noch nicht völlig beseitigt waren, gab es dort zu Beginn unseres Studiums letzte Einsätze in Form von „Aufbausonntagen“. Über solche Enttrümmerungsaktionen und Aufräumarbeiten berichtete der Historiker Professor Werner Meyer rückblickend in einem Rundfunkinterview: „Die Ziegelsteine flogen aus einer Hand in die andere“ und wurden für spätere Verwendungen gestapelt. Gesteinsbrocken und Gerümpel landeten auf Loren, die am Ende eines provisorisch angelegten Feldbahngleises zum Abtransport abgekippt wurden. Zu unserer Zeit waren solche Großaktionen aber bereits Geschichte, sodass wir lediglich Restaufgaben erledigten.

An Einsätzen, wie bei Erdarbeiten auf dem Gelände zwischen Französischer und Nikolaikirche in den Jahren 1958/59, war unsere Seminargruppe nicht beteiligt, dafür wurden die im Studentenheim Forststraße wohnenden „Jungs“ beim Bau der in der Schlüterstraße entstehenden, 1961 fertiggestellten Karl-Liebknecht-Oberschule (heute Montessori-Oberschule) zu Hilfsarbeiten eingesetzt. Tätigkeiten wie das Stapeln von Dachziegeln nahmen wir allerdings nicht sonderlich ernst. Während einer der vielen selbst genehmigten Pausen überreichte ich dem in weißem Turnhemd agierenden Kommilitonen „Saran“ theatralisch eine weiße Wiesenblume und gratulierte mit hoher Fistelstimme „im Namen des DFD“ (Demokratischer Frauenbund Deutschlands) zu seiner „Aufbauleistung“.

Während diese Aktivitäten nur an einzelnen Tagen stattfanden, wurden Arbeitseinsätze in der Landwirtschaft mehrtägig durchgeführt. Einer führte ins benachbarte Städtchen Werder, das wir bis dahin nur vom obstweintrunkenen Herrentagsschwoof kannten und nun als „Obst- und Gartenort“ kennenlernten, wo „agrarkundige Holländer“ nach dem Dreißigjährigen Krieg mit dem Obstbau begonnen hatten. Diesen haben ihre Nachfahren bis in unsere Zeit fortgeführt, in der Werder Zentrum des Havelländischen Obstanbaugebietes wurde und mehrere Genossenschaften existierten, von denen uns eine als gefragte Arbeitskräfte bei der Obsternte einsetzte.

Auf dem Plateau oberhalb des Großen Plessower und Glindower Sees pflückten die „Mädels“ Erdbeeren und wir „Jungs“ Kirschen. In luftiger Höhe auf der Leiter stehend fielen uns spontan Fontanes Verse über „die Werderschen“ ein: „Blaue Havel, gelber Sand, schwarzer Hut und braune Hand, Herzen frisch und Luft gesund und Kirschen wie ein Mädchenmund“. Dieser dichterische Vergleich bezeichnet treffend die dicken saftigen Früchte, die hierzulande Knupper oder Knopper und im Anhaltinischen Knorpelkirschen heißen, was sprachlich auf die knotenförmige Verdickung des Ernteguts hinweist, das jeder von uns mit Stiel in seinen Spankorb sammeln sollte.

Bei unserer hoch angesiedelten Tätigkeit durften wir nach Herzenslust Knuppern knabbern, weil niemand als Anti-Nasch-Maßnahme permanentes Pfeifen anordnete, wie in manchen Erzählungen zu lesen ist. Und Obstbauer Lindicke, der auf jenem Areal eine Plantage bewirtschaftet, erinnert sich, dass die Erntehelfer früher sogar abwechselnd pfeifen und singen mussten, damit der Besitzer Gewissheit hatte, dass möglichst alles geerntet wird. Bei uns war das nicht der Fall, denn wir verzehrten massenhaft Knuppern, spuckten die Steine weit durch die Luft, bis wir knupperbäuchig von der Leiter herunter krabbelten.

Obwohl eigentlich satt, aßen wir zu Abend jede Menge frisches Brot, bestrichen bzw. belegt mit Schmalz, Wurst und Harzer Käse, alles hinuntergespült mit „flüssigem Brot“. Das sollte sich bald rächen, denn in der Nacht musste der eine oder andere aus dem Zelt ins Freie hasten, um seinen Darm zu entleeren. Solche Anekdoten fielen uns dann später wieder ein, als wir uns an der Hochschule sputen mussten, um die durch den Ernteeinsatz ausgefallenen Lehrveranstaltungen nachzuholen.

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Zum Autor:

Josef Drabek, 1939 in Böhmen geboren, studierte von 1958 bis 1962 an der Pädagogischen Hochschule Potsdam, dem Vorläufer der heutigen Potsdamer Universität. Derzeit schreibt Drabek seine Erinnerungen. Auszüge daraus erscheinen in den PNN.

Josef Drabek

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