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Studentenfilmfestival Sehsüchte 2016 in Potsdam: Generation ratlos

Das größte Europäische Studentenfilmfestival "Sehsüchte" in Potsdam-Babelsberg konnte in diesem Jahr seine Besucherzahl steigern. Die Hauptpreise gingen nach Mexiko, Berlin und Ludwigsburg.

Potsdam - Da ist so ein unheilvolles Rauschen, ein Vibrieren, die Erde zittert ein klein wenig, Wasser rauscht. Wie ein Menetekel steht die Erinnerung an das von Erdbeben, Feuersbrunst und Tsunami 1755 zerstörte Lissabon hinter den Bildern von Fabian und Doro. Hier in der fremden Stadt wollen sie ihre Liebe wieder kitten. Ein abendfüllender Film, ein perfekt inszenierter Kinofilm mit berauschenden Bildern – und sehr viel Sex. Für „Fado“ hat Jonas Rothlaender (dffb Berlin) beim 45. Studentenfilmfestival „Sehsüchte“ der Filmuniversität Babelsberg am Sonntag den Preis für den besten langen Spielfilm erhalten.

Am Ende geht es nur um ein Luxusproblem

Der bereits mit einem der begehrten Max-Ophüls-Preise ausgezeichnete Film überzeugte die Jury durch das Zusammenspiel von Schauspiel, Montage und Kamera – und durch seine „emotionalen Stärke“, Jonas Rothlaender erzähle mutig und gefühlvoll zugleich, hieß es. Doch mutig ist dieser Film nun wirklich nicht. Er ist perfekt, er funktioniert. Doch am Ende geht es nur um ein Luxusproblem zwischen Fabian – genial verkörpert von Golo Euler – und Doro, um die spätpubertäre Eifersucht des jungen Arztes. Doro, die ihre Freiheit sucht, sagt zu Fabian: „Du solltest endlich erwachsen werden“. Darum dreht sich hier alles. Nachwuchs-Regisseurin Theresa von Eltz hatte als Jury-Mitglied zuvor mehr Mut von den Filmstudenten gefordert, den sie in diesem Film nun gefunden habe. Doch wirklich mutig ist das alles nicht, auch nicht, wenn beim Oralverkehr ein erigierter Penis zu sehen ist.

Es gab mutigere Filme auf diesem Festival, etwa den israelischen Film „Ba’Alot Hashahar“ („At Dawn“ von Omri Burstyn), in dem ein palästinensischer Jugendlicher zusammen mit jungen Israelis gegen die Siedlungspolitik Israels aufbegehrt. Wobei auch dieser Film nur beobachtet, konstatiert, nicht wirklich an die Wurzeln geht. Wie viele Filme dieser Generation, in denen das Ende meist offen ist, keine Lösungen angeboten werden, eine schon fast hoffnungslose Ratlosigkeit herrscht. Hier wird nicht zum Kampf gerufen, hier schneidet keine Rasiermesser wie in Buñuels „Andalusischem Hund“ durch ein Auge, hier wird die Gesellschaft nicht grundsätzlich infrage gestellt wie bei Rainer Werner Fassbinder.

Radikal im Sinne von an die Wurzeln gehend

So gesehen ist der als bester langer Dokumentarfilm ausgezeichnete Film „Tiempo Suspendido“ von Natalia Bruschtein (Mexiko) sehr viel radikaler als „Fado“ – im Sinne von an die Wurzeln gehend. Ein ruhiger Erzählfluss, keine schockierenden Bilder, eine steinalte Frau, die schon vieles vergessen hat, was sie erleben musste. Doch Stück für Stück kommt heraus, dass die argentinische Militärdiktatur in den 1970er-Jahren Laura fast alle Kinder genommen hat. Die Regisseurin – ihre Enkelin – überlebte nur, weil die Kinder bei der Deportation der Eltern zurückgelassen worden waren. Laura, heute Urgroßmutter, sagt, dass es fast ein Segen ist, im Alter so viel zu vergessen. Und dann sagt sie, die ihr ganzes Leben um Gerechtigkeit kämpfen musste, im Rückblick den vielleicht wichtigsten Satz: dass man das Leben als Abenteuer gelebt habe, mit der dauerhaften Hoffung, die Dinge ändern zu können. Eine vielleicht optimistische Erkenntnis. Doch dann sagt sie wieder: dass sich am Ende nichts ändere. „Alles bleibt gleich.“ Und lächelt dabei allwissend. Und wir sehen die Sonne zwischen den blühenden Bäumen. Dieser Film hat den Preis wirklich verdient.

Gelungen auch der als bester kurzer Spielfilm ausgezeichnete „Ameryka“ von Aleksandra Terpinska (Polen). Eine Coming-of-age-Geschichte von zwei jungen Freundinnen irgendwo im wilden Westen Polens, der Ort, in dem sie leben heißt „Ameryka“ – und dort wollen sie eigentlich auch hin. Denn das Leben in der Provinz ist hart und leer, Missbrauch, Vergewaltigung, Alkohol und Armut dominieren den Alltag. Auch hier, natürlich, bleibt das Ende offen.

Frauen aus Silikon

Skurril wird es beim besten kurzen Dokumentarfilm „My Silicone Love“ von Sophie Dros (Großbritannien). Ein älterer Mann lebt mit mehreren jüngeren Frauen zusammen, er geht mit ihnen spazieren, isst mit ihnen, fotografiert sie und manchmal schläft er auch mit ihnen. So weit, so gut, nur dass die Frauen aus Silikon sind. „Ideal wäre, wenn meine Puppen zum Leben erwachen würden, dann müssten sie keine Puppen mehr sein“, sagt der Mann irgendwann. Doch dann wäre für ihn sicher alles schwieriger. Dass er den Mangel an Nähe zu Frauen durch diese Fantasiewelt kompensiert, weiß er selbst. Warum das so ist? Auch 20 Jahre nach dem Tod seiner Mutter hat er noch einen Mülleimer für sie im Haus: „Nicht leeren, nichts reintun!“ steht darauf.

Der Produzentenpreis geht diesmal an einen TV-fertigen schwäbischen Heimatkrimi: „Trash Detective“ von Dominik Utz & Martin Schwimmer (Filmakademie Baden-Württemberg). Keine Kunst, keine Politik, kein Experiment. Die Jury fand es eine mutige Entscheidung, in Mundart zu drehen – ohne Untertitel. Prädikat: aglotza! (anschauen!).

Eine Stärke, dass sich das Festival jedes Jahr neu erfindet

In ihrem 45. Jahr haben die „Sehsüchte“ einmal mehr gezeigt, dass nichts bleibt, wie es war. Denn das Festival wird jedes Jahr von einem neuen Studierenden-Jahrgang organisiert. Diesmal hat man statt des Rotor-Kinos das fx.Center miteinbezogen, eine schöne Location mit Requisiten vom „Grand Budapest Hotel“-Dreh, Abwechslung und Filmflair. Neue Preise sind hinzu gekommen, in 13 Kategorien wurde ausgezeichnet. Es gab Kritik zu Anfang des Festivals, dass es zu wenig sichtbar sei, zu wenig Potsdamer anziehe, insgesamt noch mehr Publikum vertragen könnte. Sicher, der einstige Standort im Babelsberger Thalia-Kino strahlte viel stärker in die Stadt hinein als die abgekapselte Filmwelt des Studiogeländes. Doch man wollte in diesem Jahr eben studentischer werden. Und das war es dann auch, mit vielen Gästen aus dem Ausland, Tischkickerturnier und gut besuchten Kinos. Rund 70 Filmteams aus aller Welt hatten die Studierenden diesmal eingeladen, auch das ein Rekord wie auch die zum Festival eingereichten 3500 Filme. Und weil die jungen Macher selbst wissen, dass ein solches weltumspannendes Zusammentreffen der nachwachsenden Generation heute nicht mehr selbstverständlich ist, wollten sie ein Zeichen für Zusammenhalt und Integration setzen: Sie luden kurzerhand ein Gruppe von Geflüchteten ein, kostenlos an dem Festival teilzunehmen. Letztlich zeigt sich also, dass es eine Stärke ist, dass sich das Festival jedes Jahr neu erfindet.

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ZUSCHAUER UND PREISE

In diesem Jahr besuchten zwischen 7000 und 8000 Zuschauer das „Sehsüchte“-Festival, eine leichte Steigerung im Vergleich zu 2015. Die wichtigsten Preise gingen 2016 an: „Fado“ von Jonas Rothlaender (dffb Berlin) in der Kategorie bester Spielfilm lang (5000 Euro). Als bester Spielfilm kurz (2000 Euro) wurde „Ameryka“ von Aleksandra Terpinska (Polen) ausgezeichnet. Bester Dokumentarfilm lang (5000 Euro): „Tiempo Suspendido“ von Natalia Bruschtein (Mexiko). Bester Dokumentarfilm kurz (2500 Euro): „My Silicone Love“ von Sophie Dros (Großbritannien). Bester Animationsfilm (2500 Euro): „Ruben Leaves“ von Frederic Siegel . Produzentenpreis (3000 Euro): „Trash Detective“ von Dominik Utz & Martin Schwimmer. Future-Teens-Preis (2500 Euro): „Le sommeil des amazones“ von Berangere McNeese (Belgien). Future-Kids-Preis (2500 Euro): „Robin & Necki“ von Beatrice Viktoria Matis (Filmuni Babelsberg). (alm/kix)

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