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Blick nach vorne. Für die nächsten 25 Jahre müsse die Geschichte der Gründungsphase sauber aufgearbeitet sein, betont Uni-Präsident Oliver Günther.

© K. Fritze/UP

Streit um Gründung der Universität Potsdam: Eine Operation am offenen Herzen

Der Streit um die Gründungsgeschichte der Universität Potsdam geht weiter. Ein Marathonsymposium brachte wie erwartet keinen Konsens, aber einen weiteren Eklat und die These vom Ost-Ost-Konflikt.

Potsdam - Er wollte sie nicht haben, diese große Kiste mit Gerüchten, Anschuldigungen, Enttäuschungen und Verletzungen. Bereits zu seinem Amtsantritt 2012 war man an den Präsidenten der Universität Potsdam, Oliver Günther, von verschiedenster Seite herangetreten, mit Stasi-Vorwürfen, Ost-West-Konflikten und ähnlichen Gerüchten. Er sah viel Dissens – vor allem aber dringenden Handlungsbedarf. Die Blackbox müsse geöffnet werden, auch wenn die Büchse der Pandora einiges Ungemach ausspucken dürfte. Günther kam von der Berliner Humboldt-Universität, hier war man 1990 anders verfahren, viele DDR-Wissenschaftler mussten gehen. In Potsdam hingegen begab man sich mit der Landesregierung auf den Brandenburger Weg, möglichst viele Arbeitsplätze der drei DDR-Hochschulen wurden in die neue Universität mitgenommen – ein Mittelbau von knapp 500 Lehrausbildern der Pädagogischen Hochschule (PH), die über Nacht eine Forschungsuniversität bespielen sollten. Ein mehr als schwieriges Unterfangen – mit offenem Ausgang.

Eklat zum Jubiläum

Zum 25. Jubiläum der Uni Potsdam in diesem Jahr hätte man sich mit fröhlichen Feierlichkeiten begnügen können. Aber das ist Oliver Günthers Sache nicht. Er ließ Uni-Historiker Manfred Görtemaker – der einst nach ausgebliebener Stasi-Überprüfung 1994 die Akten selbst zur Überprüfung zur Gauck-Behörde gebracht hatte – eine Untersuchung zur Uni-Geschichte starten. Die Neujahrsrede von Görtemaker, der den Finger in die Wunde der mangelhaften Evaluierungen legte, wurde zum Eklat. Doch Günther ließ sich nicht beirren, die Gründungsgeschichte müsse sauber aufgearbeitet werden – wohl wissend, dass es keinen Konsens geben kann. Und zwar genau jetzt, solange die Zeitzeugen noch zur Verfügung stehen. Also setzte man zum Jahresende noch einmal ein Symposium mit vielen der damaligen Beteiligten an – ein Zwölf-Stunden-Marathon am vergangenen Freitag, der natürlich auch nicht reichte. Viele, viele Stimmen, jeder sah die Zeit anders, jeder erinnerte sie anders.

Forschen und Politisieren

Historiker Görtemaker hatte in seiner Neujahrsrede bemängelt, dass die Uni Potsdam ein Großteil des Personals aus dem wissenschaftlichen Mittelbau ohne ausreichende Evaluierung übernommen hatte, Stasi-Überprüfungen seien verschleppt worden. Sein Hauptpunkt: Ein auf Lebenszeit angestelltes wissenschaftliches Personal aus dem Mittelbau der PH habe an der jungen Uni jahrelang zum Forschungsvakuum geführt. Ludwig Brehmer, ehemaliger Physikprofessor, der von der PH an die Uni Potsdam kam, sprach daraufhin im Namen von rund 30 Mitstreitern von Diskreditierung und Entwürdigung. Die Universität vergesse ihre Gründer, die durch ihre jahrelange konstruktive Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus den alten Bundesländern die neue Universität erst ermöglicht hätten. Und: Die Forschungsleistung der PH werde völlig verkannt. Doch dem widersprachen auch ehemalige PH-Wissenschaftler. Helmut Assing, selbst von der PH an die Uni gewechselt, sagte auf dem Symposium: „Die Forschung stand an der PH nicht im Mittelpunkt, darin waren wir zweite Garnitur in der DDR.“ Der Auftrag sei Lehre und Erziehung gewesen. Ein ehemaliger Dozent der Humboldt-Uni hat die PH gar als Insel der Glückseligen in Erinnerung, was das Arbeitspensum betraf. Zudem sei eine Mitgliedschaft in der SED – „und auch mehr“ – für die Hochschulkader Voraussetzung gewesen. Brehmer verwahrte sich gegen Verallgemeinerungen. Doch eine starke Politisierung der PH seit Mitte der 1960er-Jahre ist unumstritten.

Verschenkte Evaluierungen

Görtemaker beteuerte einmal mehr die Faktizität seiner Untersuchung, alles sei durch Dokumente belegt. Zur Versachlichung der Debatte mahnte er an, seinen Text genau zu lesen. Er schreibe nicht, dass alle PH-Mitarbeiter für die Forschung unterqualifiziert gewesen seien, sondern er benenne ein „Strukturproblem“. Nämlich, dass die Überführung einer PH in eine Uni kein Ost-West-Problem gewesen sei, sondern überall auf der Welt schwierig gewesen wäre. Zur Verwaltung sage er nichts, auch die Evaluierung der Professoren sei korrekt verlaufen. Kernproblem sei die „verschenkte Evaluierung“ und die Überleitung der Mitarbeiter auf unbefristete Stellen im Mittelbau gewesen. Die Mitarbeiter hätten die Fragebögen selbst ausfüllen können. „Damit war die Erneuerung des Mittelbaus auf 25 bis 30 Jahre unmöglich geworden.“

Auch mit der Qualität der PH-Promotionen geht Görtemaker hart ins Gericht. Im Fach Geschichte hätten die Arbeiten ausschließlich auf publizierten Quellen beruht: „Keine der Arbeiten – abgesehen sehr weniger Ausnahmen – würde heute Kriterien von Masterarbeiten erfüllen.“ Die wissenschaftliche Produktion der übernommenen Dozenten an der neu gegründeten Uni sei, mit Ausnahme einzelner akademischer Karrieren, ebenso kläglich gewesen. Trotz alledem sei anzuerkennen, dass die Gesamtheit der übernommenen Mitarbeiter einen großen Beitrag am Aufbau der Uni geleistet habe.

Im Osten Schlusslicht

Barbara Marshall von der University of East Anglia, die 1992 als Gastdozentin an der Uni Potsdam weilte, hat in diesem Jahr ebenfalls eine Untersuchung zur Uni-Gründung vorgelegt, die nach ihren Worten bereits 2015 also bereits vor der gegenwärtigen Kontroverse zur Forschungsleistung abgeschlossen war. Sie kommt zu einem ähnlichen Ergebnis wie Görtemaker. Die personellen Kontinuitäten waren explizit durch die Landesregierung zum Erhalt der Arbeitsplätze gewollt. Daneben hätten aber auch politische Sympathien in der damaligen Regierung eine Rolle gespielt. Die Dimension der Übernahme-Problematik zeigt sie anhand eines Vergleichs: Demnach habe die kleine junge Potsdamer Uni 1992/93 mehr wissenschaftliche Mitarbeiter gehabt als die Humboldt-Universität Berlin oder die Unis in Siegen und Düsseldorf.

Marshall hat zu den personellen Kontinuitäten geforscht, nicht zu den Forschungsleistungen der Betroffenen. Doch sie beruft sich auf verschiedene Untersuchungen, wonach Potsdam in Fragen der Forschungsleistungen seinerzeit im Osten das Schlusslicht war - zu diesem Ergebnis kam auch eine Ende 1993 im „Focus“ veröffentliche Studie zur Forschung der deutschen Universitäten. "Hier schneiden gerade die Fächer in dem Vergleich besonders schlecht ab, in denen die größte Kontinuität zu den Vorgängerinstitutionen bestand", so Marshall. 

Natürlich gab es wichtige ostdeutsche Forschung in der PH/BLHS, die aber anders als die westdeutsche strukturiert war, räumt Marschall ein. "Gerade hier, so scheint es mir, lag das Problem der frühen Universität: Zwar gab es auch hier gute ostdeutsche Forschungsleistungen. Von diesen Einzelfällen abgesehen aber war die Mehrheit besonders des Mittelbaus hauptsächlich der Lehre verpflichtet, die in wiederholten Rankings immer wieder als ,hervorragend' beschrieben wurde, was der Universität letztlich auch zugute kam."

Tatsächlich sei die Potsdamer Universität durch ihre ungewöhnliche Entstehungsgeschichte nur schwer mit anderen vergleichbar gewesen. Ihre Recherche zeige in der Politikwissenschaft, den Naturwissenschaften und an der Juristischen Fakultät in den Anfangsjahren schlechte Leistungen in Potsdam. „Wenn man sieht, wie viele Leute übernommen wurden, kann man wohl sagen, dass da eine Verbindung besteht“, sagte Marschall den PNN. Immerhin sei die Stasi-Hochschule Golm rechtzeitig abgewickelt worden, ergänzt Marschall. „Von dort wurde nur wenige Mitarbeiter für den technischen Bereich der neuen Uni übernommen  – inklusive der Telefonanlagen.“

Phase der Enttäuschungen

Im Hintergrund der Debatte sieht Geschichtsprofessor Frank Bösch (Uni Potsdam/ZZF), der das Symposium organisiert hat, auch eine Phase der Enttäuschung, die teils bis heute nachwirke. Enttäuscht waren Widerständige der DDR-Zeit, die im neuen System keine Stellen erhielten, enttäuscht auch die, deren wissenschaftliche Leistungen aus DDR-Zeit nun kritisch hinterfragt wurden – wie auch Westdeutsche enttäuscht waren, die im Osten auf Mauern stießen. Kaum lösbar sei die Frage, wie man fachliche Leistungen vergleichend bewerten kann. Für Zeithistoriker sind 25 Jahre eigentlich noch zu nah am Geschehen, zumal für viele Akten, etwa des Wissenschaftsministeriums, eine 30-Jahre-Sperrfrist gilt. Dennoch müsse die Debatte jetzt geführt werden, gerade auch wegen des fortgeschrittenen Alters der Zeitzeugen. Und: Für die weitere Forschung müsste das Uni-Archiv großzügiger geöffnet und ausgestattet werden. Auch sein Kollege Görtemaker plädiert für zeitnahe Aufarbeitung: Zeitgeschichtsforschung müsse auch zu einer Zeit, in der noch nicht alle Quellen zur Verfügung stehen, möglich sein. „Wir können jetzt anfangen und sollten das auch tun.“

Im Vorfeldes des Symposium kursierten zahlreiche Zuschriften und Mails, auch in der Redaktion gingen Offene Brief und vertrauliche Zuschriften ein – namentliche Stasi-Vorwürfe, der Ruf nach Rehabilitation, die Frage nach Unrecht und Evaluierungen bis hin zu Verschwörungstheorien und Bezügen zu Dietrich Schwanitz’ Roman „Der Zirkel“. Letztlich wird klar, dass viele nun darum kämpfen, wie ihre Lebensleistung bewertet wird – wie sie in die Geschichte eingehen. Und manch einem geht es auch um Deutungshoheit.

Zum Eklat wurde dann der etwas gespenstische Auftritt von Ökophysiologieprofessor Axel Gzik auf dem Symposium. Der letzte PH-Rektor der Wendezeit hatte den Posten angeblich im Einvernehmen für Rolf Mitzner geräumt – um dann von diesem als Dozent abberufen zu werden. Er musste sich wieder einklagen. Heute will er von Mitzner wissen, warum dieser das getan hat. Doch der hochbetagte und sichtlich angeschlagene Gründungsrektor konnte oder wollte es nicht sagen. Seine Beurteilung fällt durchaus ambivalent aus, es gibt Vorwürfe der Verschleppung von Evaluierungen und Stasi-Überprüfungen. Doch gerade Görtemaker stärkte ihm zum Ende uneingeschränkt den Rücken – ihre Zusammenarbeit sei immer eng und vertrauensvoll gewesen.

Ein vermeintlicher Ost-Ost-Konflikt

Die Frage, ob die großzügige Übernahme der PH-Wissenschaftler der Uni geschadet oder geholfen hat, lässt sich letztlich nicht einfach beantworten. Doch ob die Debatte nur ein Ost-West-Konflikt ist, wird zumindest von den West-Dozenten angezweifelt. Uni-Politologe und Seniorprofessor Werner Jann vermutet eher, dass es vielmehr ein Ost-Ost-Konflikt sei – zwischen den verschiedenen damaligen Gruppen der ausgehenden DDR-Gesellschaft, die heute noch gegeneinander stünden. Seien es doch - abgesehen von Görtemaker und Marschall - in erster Linie auch Personen mit Ost-Biografie gewesen, die sich bei dem Symposium nun kritisch geäußert hatten. Letztlich sei die Gründung der Uni Potsdam eine „Operation am offenen Herzen“ gewesen – mit gutem Ausgang: „Eigentlich ist die Uni doch eine Erfolgsgeschichte“, so Jann. Ähnlich sieht es Uni-Historiker Julius H. Schoeps. Man habe sich seinerzeit zusammengerauft und mit dem damaligen FDP-Wissenschaftsminister Hinrich Enderlein ein gutes Konzept entwickelt. Vielleicht habe man auch Fehler gemacht, aber heute könne sich die Uni sehen lassen. „So what?“, fragt Schoeps. Ist die Debatte also überflüssig? Nein, sagt Linke-Studentenvertreterin Gesine Dannenberg. Alles müsse auf den Tisch, auch und gerade im Interesse nachfolgender Generationen.

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