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Der russische UN-Botschafter Nations Vassily Nebenzia dementiert jede Verwicklung seines Landes in den Nervengas-Anschlag auf den früheren Doppelspion Sergej Skripal.

© REUTERS

Skripal, Syrien, Israel: Dringend gesucht: die Wahrheit

Wir leben mit einer Inflation der Informationen, von allen Seiten. Weil aber die Glaubwürdigkeit, braucht es Wahrheitstribunale

Auf den früheren russischen Doppelspion Sergej Skripal und seine Tochter wurde in Südengland ein Anschlag mit Nervengift verübt. Großbritannien machte Russland verantwortlich. Moskau wies dies heftig zurück.

Bei einem Angriff auf die syrische Stadt Duma wurde mutmaßlich Giftgas eingesetzt. Westliche Staaten sahen das Assad- Regime als Übeltäter. Syrien und sein Verbündeter Russland wiesen die Anschuldigungen zurück, der Chemiewaffeneinsatz sei inszeniert worden.

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat dem Iran vorgeworfen, das Land verstecke umfangreiches Know-how zum Atomwaffenbau – für einen künftigen Einsatz. Das sei ein Bruch des Atomabkommens. Der Iran nannte die Vorwürfe einen „aufgewärmten Bluff“.

Dreimal Anschuldigungen, dreimal Retourkutschen – und wo steckt sie nun, die Wahrheit? Sie ist schwieriger denn je zu finden, selbst wenn die Informationen via „Tagesschau“ und Tagesspiegel üppig fließen. Trotzdem steht im Ergebnis die eine Information gegen die andere, genauer: Die eine Information wird von der einen Seite, die andere von der anderen Seite in Stellung gebracht. Der Zuschauer, der Leser, der User findet sich im Informationskrieg wieder und damit mit der entscheidenden Frage: Wem glauben wir, wem können wir glauben?

Egoismen werden camoufliert

Damit sind weniger die Vermittler der Information gemeint. Wenn Medien und Journalismus seriös arbeiten, überbringen sie alle verfügbaren Informationen, versuchen zudem, mit eigener Recherche den Tatsachen die Ehre zu geben. Das ist, wie in den drei eingangs geschilderten Fällen, mühsam bis unmöglich. Staaten und Allianzen, Machthaber und Menschen haben Interessen, also werden sie immer versuchen, die Egoismen so zu ummänteln, zu verkleiden, zu camouflieren, dass der Empfänger nur sagen kann: Dieses Verhalten ist richtig, es ist gerecht und gerechtfertigt. Auch wenn das Gegenteil stimmt.

Das Merkwürdige ist doch: Die Inflation an Informationen hat die Gewissheiten mehr erodieren als wachsen lassen. Aus dem Mehr an Nebeneinander, Übereinander und Gegeneinander der Informationen ist eine Asymmetrie des Wissens erwachsen – und mit ihr der Zweifel. Was nicht das Schlimmste ist, der Zweifel ist die Schwester der Neugier. Sie treibt immer wieder an, im besten Fall gerät die Wahrheit in den Zielkorridor.

Wirklich und täglich praktikabel ist das nur bedingt. Jede Gemeinschaft braucht ein „Überzeugungsraster“, in das neue Informationen als falsch und richtig, als wahr und unwahr eingepasst werden. Informationen werden so zu Meinungen, Meinungen zu Überzeugungen, Überzeugungen zu Taten. Was aber, wenn das Überzeugungsraster nicht mehr dazu taugt, Gewissheiten herzustellen?

Dann wird das Überzeugungsraster überholt, neu modelliert, das Internet bietet ein unendliches Reservoir von Bastelanleitungen für den Reboot. Da steckt nicht die Gemeinheit des Einzelnen dahinter, vielmehr der dringend notwendige Versuch, eigenes Denken und Handeln in beherrschbaren Bahnen zu halten. Der Mensch braucht mehr Sicherheit als Unsicherheit.

Wer gibt sie ihm nun, die Sicherheit in Zeiten von Vertuschung, Verwirrung, Verschwörung?

Verhältnis zur Wahrheit ist immer taktisch

Zurück auf Anfang: Es wird wohl keiner annehmen, dass die betroffenen und schon gar nicht die beschuldigten Parteien den erklärten Willen zur Wahrheit haben. Ihr Verhältnis zur Wahrheit wird immer taktisch sein. Die Anschuldigungen müssen von anderer, möglichst objektiver Stelle überprüft werden.

Tatsächlich ist der Staatengemeinschaft die Einrichtung solch einer Institution schon mal gelungen: der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Im Kern haben dessen Ad-Hoc-Tribunale Wahrheitsfindung betrieben. Hat ein Slobodan Milosevic, ein Radovan Karadzic die Verbrechen begangen, die ihnen vorgeworfen worden waren? Das Kriegsverbrechertribunal musste Beweis führen. Auch eine immense Rechercheleistung. Bis auf die Betroffenen ist kaum einer auf die Idee gekommen, dass hier die Wahrheit erfunden, verbogen, passend gemacht wurde. Das Gegenteil fand statt: Aus den Puzzles wurde das Mosaik der Verbrechen, der Täterhandlungen zusammengesetzt.

Natürlich würde jedes Verfahren um die Wahrheit dauern, die Lüge hat nun mal den Vorteil, dass sie schneller ist. Aber so eine Verhandlung, ob nun die Russen Sergej Skripal vergiftet haben, das Assad-Regime Giftgas eingesetzt hat und Netanjahu mit böswilligen Unterstellungen operiert – die würde nachhaltigen Eindruck machen. In Zeiten des Informationskrieges kann ein „Wahrheitstribunal“ ein Signal setzen: Wir sind der Wahrheit auf der Spur, und wenn wir dabei die Lüge finden.

Denn das gilt im Großen wie im Kleinen: Bei einer Lüge erwischt zu werden, ist immer das größere Übel als in einer Wahrheit bestätigt zu werden. Mit Sicherheit.

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