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Homepage: „Sie konnten an der Freiheit schnuppern“

„Axel Mitbauer ist über die Ostsee geschwommen. Sicher der Wettkampf seines Lebens.“ Der Sporthistoriker Michael Barsuhn über die Ausstellung „ZOV Sportverräter“, die am Donnerstag in Berlin eröffnet wurde

Herr Barsuhn, die Ausstellung des Zentrums deutsche Sportgeschichte heißt „ZOV Sportverräter“. Die Abkürzung ZOV muss man erklären.

„Zentraler Operativer Vorgang Sportverräter“ – das ist ein Vorgang, der von der Staatssicherheit der DDR angelegt worden ist. Darin wurde minutiös gelistet, wenn Athleten das Land „ungesetzlich verlassen“ haben, wie es hieß.

Wie entstand die Idee für die Schau?

Wir haben uns mit dem Thema schon lange beschäftigt. „Republikflucht“ im Sport ist ein bislang gänzlich unerforschtes Feld. Die Kuratoren Jutta Braun und René Wiese haben über die Jahre hinweg diverse Einzelfälle bearbeitet und festgestellt, dass es Gemeinsamkeiten gibt, eine gewisse Systematik. Das weckt natürlich das Interesse des Wissenschaftlers.

In der Ausstellung werden 15 Einzelschicksale beleuchtet. Wie viele Sport-Flüchtlinge aus der DDR gab es insgesamt?

Nach Zählung der Staatssicherheit waren es 615. Die Dunkelziffer ist sicherlich noch höher.

Warum sind die Sportler geflohen?

Einerseits ging es den Leistungssportlern nicht anders als dem Großteil der DDR-Bevölkerung: Die eingeschränkte Freiheit, die Tatsache, dass man nicht sagen konnte, was man wollte, der Bekenntniszwang zum SED-Staat hat sie dazu getrieben, das Land zu verlassen. Außerdem hatten sie im Gegensatz zum Normalbürger die Möglichkeit, ins Ausland zu reisen. Sie konnten an der Freiheit schnuppern und wussten, wie es in Los Angeles, Mexiko oder München aussieht.

War auch das verordnete Doping ein Fluchtgrund?

Ja, das hat in vielen Fällen eine Rolle gespielt. Die Athleten wollten mit der Flucht sich und ihren Körper vor den repressiven Zügen des DDR-Sportsystems schützen. Es gibt etwa das Beispiel der Schwimmerin Renate Bauer, die 1979 geflohen ist, weil sie sich „wie ein Versuchskaninchen“ gefühlt hat, wie sie sagt.

1969 war ihr Schwimmer-Kollege Axel Mitbauer besonders spektakulär geflohen.

Er ist 25 Kilometer über die Ostsee geschwommen, hat sich nur an den Sternen orientiert. Das war sicherlich, wie er selbst sagt, der Wettkampf seines Lebens. Solche spektakulären Fälle gab es immer wieder: Der Leichtathlet Jürgen May zum Beispiel ist im Kotflügel eines amerikanischen Straßenkreuzers über die Grenze transportiert worden.

Man würde vermuten, dass Turniere im Ausland oft zur Flucht genutzt wurden?

Das hat sich natürlich angeboten. Geschätzt die Hälfte aller Fluchten hat so stattgefunden. Gerade in den 50er und 60er Jahren spielten auch die gesamtdeutschen Olympiamannschaften eine Rolle: Von 1956 bis 1964 gab es dafür noch Ausscheidungswettkämpfe zwischen Ost und West. Der Radsportler Jürgen Kissner zum Beispiel hat 1964 beim Ausscheid in Köln im Hotel den Lastenaufzug genommen und sich so verabschiedet.

Wie reagierte die DDR auf die Vorgänge?

Es gab einen Schnitt Anfang der 1970er Jahre: Nach der Flucht von Axel Mitbauer sind die Sicherheitsmaßnahmen stark verschärft worden. Es gab dann sogenannte „operative Personenkontrollen“, da wurde auch das private Umfeld der Athleten mehr in den Blick genommen, Druck auf Familienmitglieder ausgeübt. Und es wurde die „Rotlichtbestrahlung“ verstärkt: Sportler mussten sich vor Wettkämpfen im Ausland politischen Schulungen unterziehen.

Wenn Sportler nicht mehr auf dem Platz standen, konnte man das schlecht vertuschen. Wie ging die DDR öffentlich mit dem Thema um?

Es gab schon den Versuch, das möglichst totzuschweigen. Natürlich fiel es Fans trotzdem auf, wenn ein Fußballspieler wie Peter Kotte nicht mehr bei Dynamo Dresden aufgelaufen ist, weil er nach einem gescheiterten Fluchtversuch nur noch in der dritten Liga spielen durfte. In der Presse wurde aber nur mit relativ kleinen Notizen darauf eingegangen. Dann fiel häufig das Wort vom „Verrat“. In manchen Fällen wurden den Sportlern im Nachhinein Auszeichnungen aberkannt.

Im Fall des Fußballers Lutz Eigendorf, der Jahre nach seiner Flucht bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, wurde spekuliert, dass er im Auftrag der Stasi ermordet worden ist. Der Fußballtrainer Jörg Berger berichtet, die Stasi habe ihn mit Schwermetallen vergiftet. Was weiß man sicher über die Verfolgung der Sportler im Westen?

Es gab den langen Arm der Stasi im Westen, das ist keine Mär. Es gibt zum Beispiel Pläne, in denen die Fahrtrouten vom Wohnhaus zum Trainingsplatz minutiös nachgezeichnet worden sind. Solche Pläne finden sich auch in der Stasi-Akte von Jörg Berger. Im Fall Lutz Eigendorf gibt es bis heute keinen eindeutigen Beweis dafür, dass die Stasi einen Mordanschlag verübt hat. Es sprechen aber zahlreiche Indizien dafür.

Konnten die geflohenen DDR-Sportler ihre Karrieren im Westen fortsetzen?

Es war nicht unbedingt so, dass sie mit offenen Armen empfangen worden sind. Man hatte schon Startschwierigkeiten. So wurde Jörg Berger, vorher der Nationaltrainer der DDR-Fußball-Junioren, vom Deutschen Fußballbund aufgefordert, die Trainerlizenz neu zu erwerben.

Die Flüchtlinge stießen auf Vorbehalte?

Der Grund lag eher im „Sportprotokoll“ vom 8. Mai 1974, das den deutsch-deutschen Sportaustausch regelte. Nach dem Mauerbau 1961 hatte lange Eiszeit geherrscht, dann kam es schrittweise zur Entspannung. Das Sportprotokoll regelte, wie viele Treffen zwischen Ost und West pro Sportart stattfinden durften. Immer wenn ein Athlet flüchtete, nahm die DDR das zum Anlass, den Austausch einzuschränken. Bei den westdeutschen Sportfunktionären haben die Flüchtlinge deshalb den Ruf gehabt, die deutsch-deutschen Beziehungen zu stören.

Paradox.

Ja. Und auch traurig. Aber so denken Sportfunktionäre.

Wie gehen die „Sportverräter“ heute mit ihren Biografien um?

Die Betroffenen haben das nur in begrenztem Maße aufgearbeitet. Wir haben bei der Vorbereitung der Ausstellung gemerkt, dass diese Dinge bei allen tief vergraben waren. Da sind Gefühle ausgelöst worden. Die Installation der Künstlerin Laura Soria für die Ausstellung hat den Betroffenen Raum gegeben, das Vergessene auszusprechen, Persönliches öffentlich zu machen und Emotionen zu zeigen, so dass Authentizität vermittelt wird. Wir als Zentrum deutsche Sportgeschichte sind daran interessiert, dass diese Biografien ihren Platz in der deutsch-deutschen Sportgeschichte finden.

Was muss passieren, damit sich die öffentliche Wahrnehmung weiter ändert?

Wir hoffen, dass wir mit der Ausstellung einen Raum schaffen, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Und zwar wissenschaftlich fundiert und nicht reißerisch anhand einer Story. Die Ewig-Gestrigen, die bei Veranstaltungen zur Aufarbeitung als Störenfriede auftreten, wird es aber geben, solange die alten Stasi-Kader noch öffentlich aktiv sind. Dass das diejenigen, die in der DDR zu Opfern geworden sind, verletzt, dass es ihnen Sorge und Angst bereitet, ist nachvollziehbar. Wichtig ist ein Klima der historisch-politischen Aufarbeitung, in dem klar ist, dass für die Verherrlichung oder Verharmlosung der SED-Diktatur kein Raum ist.

Dazu hat in den letzten Jahren auch die Arbeit von Ihnen und Ihren Kollegen im Fachbereich „Zeitgeschichte des Sports“ der Uni Potsdam beigetragen. Mit dem Ausscheiden von Professor Hans Joachim Teichler im September 2011 wird der Fachbereich abgewickelt. Wie steht es um die Zukunft der Sportgeschichte?

Der Lehrstuhl ist deutschlandweit die einzige Professur, die sich mit der historischen Aufarbeitung des Sports in beiden Diktaturen auf deutschem Boden – Nationalsozialismus und DDR – befasst. Die Notwendigkeit dazu ist völlig klar. Das Zentrum deutsche Sportgeschichte, ein 2004 gegründeter Verein von Historikern, Sportwissenschaftlern und Ausstellungsmachern, tritt nun das Erbe an. Wir werden alles dafür tun, um auch im Bereich Forschung das weiterzuführen, was wir in Potsdam gemacht haben.

Das Gespräch führte Jana Haase

Die Schau im Willy-Brandt-Haus in Berlin, Wilhelmstraße 140, ist bis 28. August immer Dienstag bis Sonntag von 12 bis 18 Uhr zu sehen. Ausweis oder Führerschein mitbringen. Eintritt frei. Weiteres Seite 20.

Michael Barsuhn, Jahrgang 1977, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl „Zeitgeschichte des Sports“ der Uni Potsdam und Geschäftsführer des Zentrums deutsche Sportgeschichte

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