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Selfie-Ausstellung in London: Es ist – Kunst! Oder?

„From Selfie to Self-Expression“: Eine Ausstellung in London sucht die Antwort auf eine heikle Frage.

Selfies nerven. Aber die wenigsten wollen dem Gesichts-Posing entkommen oder entsagen. Millionen, Milliarden am Tag? Egal, in der Saatchi Gallery in London wird die Sucht zum Phänomen zur Kunst erhoben: „From Selfie to Self-Expression“ heißt die ausladende Schau in zehn Räumen über zwei Stockwerke. Die Euphorie wird auch dadurch befördert, dass Huawei, weltweit drittgrößter Smartphone-Produzent, die Ausstellung massiv sponsert. Die Selfie-Generation wird die Self-Expression-Generation. Jeder ist ein Künstler, naja, jeder ist ein potenzieller Smartphone-Käufer.

Die Ausstellung zieht zwei große Linien. Rückwärts, in die Vergangenheit, hin zur Selbstporträt-Malerei. Der Niederländer Rembrandt hat sich beinahe 50 Mal selbst Modell gesessen, in immer neuen Verkleidungen und mit wachsender Skepsis, als sei sich da ein Mensch, ein Künstler seiner selbst immer weniger sicher gewesen. Diese Malerei schaut in das Selbst hinein, genauso wie Vincent van Gogh, Frida Kahlo, Andy Warhol, Lucien Freud und andere herbeizitierte Größen es tun.

Die Werke werden nicht im Original gezeigt, sondern als Instagram-Fotos im gewohnt schwarzen Rahmen; und immer kann der Besucher den Like-Button drücken. Das reizt, bei meiner Visite lag Frida Kahlos „Selbstporträt. Gewidmet Dr. Eloesser“ von 1940 vorne. Kunst ist immer auch eine individuelle Hitliste, mit dem Like-Button macht sich jeder ehrlich.

Die Schau behauptet nicht mit Aplomb, dass das Selbstporträt zum Selfie führen musste. Trotzdem wird klar, dass hier auf gemeinsamem Grund gearbeitet wird: Das Interesse des Menschen an sich selbst ist ungeheuer, multiperspektivisch und epidemisch. Das Selfie hat das Ego protegiert, profaniert, popularisiert. Eine fragwürdige Prominenz wie Kim Kardashian, die ihr Hinterteil im Badezimmer für Instagram „kuratiert“ und kommerzialisiert, hat sich damit in die globale Aufmerksamkeits-Zone katapultiert. Marketing ist die aktuellste Kunstform.

Was an der Ausstellung in der Saatchi Gallery so besonders und zugleich so banal ist: Dem Selfie wird mit großer Neugier und Offenheit begegnet, es werden keine Hürden aufgebaut, schlaue Momente, doofe Momente, gerne prekäre Momente: der Selfist taucht mit Haien, er wird von Stieren gejagt, er klettert die höchsten Wolkenkratzer hinauf. All das wird bei Saatchi gezeigt, natürlich auch „Foto-Bomben“, wenn David Cameron, Barack Obama und die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt sich bei der Trauerfeier für Nelson Mandela 2013 in Positur werfen.

Die Ausstellung unterstreicht den Eindruck, dass die Kunstwelt sich es nicht wird leisten können, das Selfie zu ignorieren. Seine Reichweite, sein Einfluss sind enorm – die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten wachsen exponentiell. Saatchi und Huawei haben zehn junge Briten aus einem Wettbewerb mit 14 000 Teilnehmern ausgewählt. Es ist schlichtweg erstaunlich, wie und wozu Smartphones in den richtigen Händen genutzt werden können. Vielleicht schon morgen erobert das Selfie die nächsten Dimensionen: Vom Ich zum Du zum Wir.

Online-Video-Tagebüchern sind über drei gewaltige Wände zusammengespannt

Klar, da muss die Selfie-Kunst – gezeigt und gepriesen an Vorbildern wie Tracey Emin oder Juno Calypso – noch ehrgeiziger werden, müssen die Fragen von Identität, Status, Ängstlichkeit und Aspiration, verstärkt visualisiert werden.

Und vielleicht schließt sich dann wieder der Kreis zu den großen, den kanonischen Meistern des Selbstporträts. Je feiner der Instagram-Filter wird, je größer seine Finessen, desto feiner und größer wird auch die Konstruktion des Selfies: Es wird ein Konstrukt. Dieses Spiel aus Oberfläche und Unterwelt wird besonders sichtbar bei Christopher Bakers Installation „Hello World! Or: How I Learned to Top Listening und Love the Noise“: Tausende von Online-Video-Tagebüchern sind da über drei gewaltige Wände zusammengespannt.

Das Auge huscht und saust und kann keinen Halt finden. Jeder ist keiner, keiner ist jeder. Und jedem, der ein/sein Selfie macht, muss offenbar sein, dass sein Selbstbildnis nur der pure Ausdruck von Narzissmus ist und ein schmaler Beitrag zur Selfie-Völlerei. Darin stecken der Mut, ja die Lässigkeit der Ausstellung: Die Kuration wirkt minimal, die Ausstellungsstücke sprechen für sich und zum Besucher, oder sie schweigen ihn an. Es gibt die Kontemplation, den trockenen Witz, die Ironie, wenn Alison Jackson Promi-Selfies baut, die ihre genuinen Vorläufer parodieren, wenn das Reale mit dem Surrealen und dem Hyperrealen gemischt wird.

Und immer darf diese Frage mitschwingen: Können Selfies den Status der Selbst-Promotion verlassen, Kommunikation und – zuletzt – Kunst konstituieren? Die Ausstellung liefert weniger die Antwort auf diese Frage als die Frage selbst.

„From Selfie to Self-Expression“, Saatchi Gallery, bis 30. Mai, Duke of York's HQ, King's Road, London, Katalog 15 Pfund

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