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RTL-Serie: Ost spioniert West aus: 99 Luftballons

Nena und die Raketen an der innerdeutschen Grenze: Wie Anna und Jörg Winger die RTL-Serie „Deutschland 83“ kreiert haben.

Cuernavaca 1983. 80 Kilometersüdlich von Mexico City. Anna Winger ist 13 Jahre alt, in Boston geboren, in Kenia zur Schule gegangen und nun in Mexiko, weil ihre Eltern Anthropologen an der Universität sind. Das Radio spielt Musik der New Romantics, barocke Synthie-Popsongs aus England von Duran Duran oder Spandau Ballet. Aber manchmal überrascht die Playlist. Mit einer neuen Stimme in einer unbekannten Sprache. Nena, "99 Luftballons", Neue Deutsche Welle. Scharfe Lederklamotten, ein nicht so strenger Gesichtsausdruck wie die amerikanische Rocksängerin Joan Jett, die damals sehr populär ist, dafür ein frisches deutsches Mädchengesicht. Das sieht die junge Anna, weil seit kurzem der Musiksender MTV in Mexico zu empfangen ist. Er sendet genau 24 Stunden, von Samstagmittag bis zum Sonntag, über eine Satellitenverbindung. Die Mädchen treffen sich am Wochenende bei der einzigen Freundin, an deren Haus eine Schüssel hängt. Dann wird geguckt, bis die Augen zufallen.

Baden-Baden 1983. Ein paar Kilometer bis zur wichtigen französischen Grenze. Jörg Winger will eigentlich nur weg aus dieser Bundesrepublik, Paris, Amsterdam, dort erfüllen sich Träume. Auch er verfällt dieser jungen deutschen Sängerin, die in einem nie gekannten Tonfall über Pubertätsfreuden (erster Kuss) und Jugendängste (Atomkrieg) singt. Sein Vater ist Ingenieur, seine Mutter arbeitet Teilzeit in einem Juweliergeschäft, der 13-jährige Sohn übt in Partykellern und Schuldiscos seine ersten Tanzschritte zu Nena. NDW, ganz schwer angesagt. "Zum ersten Mal hatten wir deutschsprachige Lieder, die nicht peinlich waren", sagt er.
Und der Kalte Krieg? Dass der Warschauer Pakt und die Nato hochrüsteten, die Raketensysteme an der innerdeutschen Grenze in Stellung brachten, und dass jeder kleine Fehler eine gigantische Zerstörung mit sich bringen würde? Anna Winger ist froh, weg zu sein von Boston, wo Erwachsene ihr erzählt haben, dass die Stadt auf dem dritten Platz der Vernichtungsliste der Sowjets stände. Jörg Winger hat gelernt, mit der Gefahr zu leben, wie Millionen andere Deutsche, er hält die DDR für noch hässlicher als seine Heimat - verglichen mit den Versprechungen eines lebensfrohen Frankreichs.
Beide sitzen 32 Jahre später als Ehepaar in einem Büro nahe der U-Bahnstation Warschauer Straße, ehemaliges Grenzgebiet an der Berliner Mauer, in einem Teil der Welt, in dem sie als Kind nie hätten sein wollen. Jetzt haben sie ihre ganz persönlichen 1980er Jahre wieder aufleben lassen, Fakten mit Fiktion gemischt, und daraus die Fernsehserie "Deutschland 83" kreiert.
Das ist nicht irgendeine Serie, die im Vorabendprogramm zwischen Wetterbericht und Lottozahlen versendet wird, sondern die erste große deutsche Fernsehserie, die mit den amerikanischen Vorbildern konkurrieren will. Absurd wie "Breaking Bad", den Zeitgeist aufgegriffen wie "Mad Men", spannend wie "24". In den USA ist die Serie bereits gelaufen, Tom Hanks "Bridge of Spies") hat sie als "fantastisch" gelobt. Nun senden Kanäle in Frankreich, Skandinavien und Großbritannien sie - und ab 26. November RTL in Deutschland. Sie hat das Drehbuch geschrieben, er hat es redigiert und die Serie produziert.

In einer der ersten Szenen tanzen Ost-Jugendlichen ausgelassen vor dem Fernsehen zu Nena. "Weil sie so cool ist", sagt Anna Winger. Also haben sie die Popsängerin eingebaut. Ihre Musik erzählt die Geschichte ja mit, von Ost-West-Konflikt und Cruise Missiles, Nena war ein gesamtdeutsches Idol für ein besseres Leben.

NVA-Soldat soll Bundeswehr ausspionieren

Die acht Teile erzählen von Martin Rauch (Jonas Nay), einem jungen NVA-Soldaten in Ostberlin, der gegen seinen Willen in den Westen eingeschleust wird. Er wird Adjutant eines westdeutschen Generals, ein Maulwurf in der Bundeswehr. Martin wird angelernt: wie er mit kleinen Kameras umgeht und Wanzen anbringt. Der Praxistest ist viel härter. Niemand hat Martin vor den komplizierten westdeutschen Telefonsystemen gewarnt, von dem die genervte Sekretärin am Schreibtisch gegenüber annimmt, dass er sie kennt. Man merkt den beiden Erfindern der Serie die Anspannung vor dem Starttermin an. Anna Winger erzählt schnell, sie ergänzt die Sätze ihres Mannes, wenn er nicht schnell genug ist. Er hält sich lieber an Fakten als an Ausschmückungen und unterbricht manchmal seine Frau: "Can I say something? Can I say something?" Es sind typische Paarsituationen, nur eben vor einem Besucher ausgespielt. Wie sie von ihren positiven Erfahrungen mit den Menschen in Leipzig und Berlin erzählt. "Ich fühlte mich besser aufgehoben. Wenn jemand eine Party feierte, durfte jeder kommen, brachte Essen oder Wein mit, und man fühlte sich mehr als Gemeinschaft. Im Westen empfand ich die gleichen Situationen als viel steifer und formaler." Und wie er, aufgewachsen in Köln, bei Baden-Baden und in der Eifel, erwidert: "Natürlich weiß Anna nicht, worüber sie redet." Stille. Beide fangen an zu lachen. Sie bilden ein eingespieltes Team, das solche Auseinandersetzungen inzwischen wie Schaukämpfe austrägt, unterhaltsam und eingeschliffen. Wie die Wingers zusammen gekommen sind, ist ein Abenteuer für sich. Sie haben sich in den frühen 90er Jahren in einer Hotellobby in Chile kennengelernt, sie checkte aus, er checkte ein. Es war eine Romanze auf den ersten Blick, sie verbrachten ein paar Wochen zusammen in Südamerika, bereisten Chile, Bolivien, Ecuador und kehrten dann getrennter Wege auf ihre Heimatkontinente zurück. Jedes Jahr schrieben sie sich Briefe, sie bekamen sich nicht aus dem Kopf, und dann sahen sie sich 1999 in New York wieder. Aus dem Urlaubsflirt wurde nun eine vorsichtige Fernbeziehung, ein erwachsenes Herantasten und Abwägen, am Ende stand die Ehe. Eigentlich hat die Amerikanerin ihr Büro im Gebäude des Flughafen Tempelhofs. Doch zurzeit berät sie eine amerikanische Fernsehproduktion in Friedrichshain, die sich in der fünften Etage des sanierten Fabrikgebäudes eingemietet hat. Nebenan sitzen mehrere Autoren zusammen und brüten über den Drehbüchern für die Serie "Berlin Station", im November beginnen die Dreharbeiten, Richard Jenkins der Vater aus "Six Feet Under", und Claudia Michelsen ("Der Turm", "Polizeiruf 110") stehen unter anderem vor der Kamera.

Die älteste Tochter liefert die Idee

Die älteste Tochter war ausschlaggebend, als sie mit sieben aus der Schule nach Hause kam. "Mami, es gab mal eine Mauer?" - "Hier in Berlin. Die Menschen aus Mitte durften nicht nach Tempelhof." - "Und was ist dann geschehen?" - "Sie haben die Mauer mit ihren Händen niedergerissen, und alle haben sich umarmt."
Anna und Jörg Winger hatten zuvor die dänische Politserie "Borgen" gesehen, seitdem dachte das Paar darüber nach, gemeinsam zu schreiben. Nun hatte ihnen der Kindermund die Idee am Küchentisch serviert. Wie wäre es, den Nachgeborenen 25 Jahre nach dem Mauerfall noch einmal die widersinnige Fabel des Nachkriegsdeutschland zu erzählen? Anna Winger kommt sie noch heute wie ein Märchen vor: "Es waren einmal zwei angrenzende Königreiche, geführt von zwei Brüdern, die Raketen auf das jeweils andere Land in Stellung brachten - sie aber nie abfeuerten."
Der Funke sprang über, auf sie und auf ihn. Beide brachten ihr Scherflein Erfahrung mit, sie hatte bereits einen Roman geschrieben ("This Must Be The Place"), er produziert seit Jahren die erfolgreiche Krimiserie "Soko Leipzig" für das ZDF. Beide wussten um die Schwierigkeit, sich mit kreativen Arbeiten dem anderen anzuvertrauen. "Jörg ist mein erster Leser. Er hält wirklich nicht hinter dem Berg mit seiner Meinung. Als ich ihm die erste Fassung meines Romans gezeiht habe, war er so..." Sie ringt nach Worten und sagt dann mit Nachdruck: "So gemein." Er zuckt die Schultern. "Ich war ehrlich."
Ein paar Tage hat sie nicht mit ihm gesprochen und ihm erst das Buch gezeigt, als es veröffentlicht war. Heute sagt sie, kann sie besser mit seiner Kritik umgehen, wenn sie ihm Drehbücher zu lesen gibt. "Aber es ist nach wie vor der schmerzhafteste Moment."
Im Dezember 2013 verfasste Anna Winger das Drehbuch für die Pilotfolge, RTL signalisierte Interesse, im August 2014 begannen die Dreharbeiten, und im September fiel die letzte Klappe. "Ein Jahr voller Action", darauf können sich beide einigen.
Berlin, 2015. Anna und Jörg Winger müssen nun zu den Kindern. Sie arbeitet demnächst an einer anderen Fernsehserie aus Berlin für die BBC America. Er produziert nach wie vor die Leipzig-Krimis. Beide haben bereits Ideen für eine zweite Staffel von "Deutschland 83", sollten Quoten und Kritik stimmen. Ach, ja: Nena singt demnächst live in der Stadt.

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