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Der Rektor des Abraham Geiger Kollegs Walter Homolka. 

© PNN / Ottmar Winter

Rabbiner aus Potsdam: „Für die Zukunft des deutschen Judentums“

Der Rektor des Potsdamer Abraham Geiger Kollegs, Walter Homolka, über die Erfolgsgeschichte der Rabbinerschule, Anfeindungen und Antisemitismus sowie die offene Sicherheitsfrage am zukünftigen Standort.

Herr Homolka, wie kam es vor 20 Jahren zur Gründung des Abraham Geiger Kollegs?
 

Im Jahr 1989 hatten wir in Deutschland eine sterbende jüdische Gemeinde mit nur noch 25 000 zumeist älteren Mitgliedern. Dann fiel die Mauer. Durch den glücklichen Umstand einer DDR-Regelung, die in die Bundesrepublik zur Wiedervereinigung überging, konnten dann 200 000 Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kommen. Das war eine enorm große Auffrischung der jüdischen Szene. Allerdings mit der großen Aufgabe der sozialen und religiösen Integration. Zehn Jahre später haben wir festgestellt, dass es nicht gutgehen wird, wenn neben der wirtschaftlichen Integration nicht auch eine geistige Erneuerung stattfindet. Doch es gab damals keine neue Generation von Rabbinerinnen und Rabbinern, die sich dem hätte widmen können. Deswegen haben wir vor 20 Jahren das Abraham Geiger Kolleg errichtet, um liberale Rabbiner für die größer gewordene deutsche Gemeinschaft auszubilden, Männer wie Frauen.

Hatten Sie damals schon vor Augen, dass daraus ein eigener Studiengang für Jüdische Theologie wird?

Nein, der Ausgang war offen. Nach 20 Jahren können wir heute sagen, dass sich die Institution strukturell stabilisiert hat, auch was den permanenten Zufluss neuer Kandidaten anbelangt. Wir haben 2013 mit der School of Jewish Theology eine akademische Institution an die Seite bekommen. Damit wurde in der deutschen Geschichte erstmals das Fach Jüdische Theologie an einer staatlichen Hochschule geschaffen. Die Arbeitsteilung zwischen theoretischer und praktischer Ausbildung ist dadurch wesentlich besser geworden. Damit sind wir nun mit den christlichen Theologien auf Augenhöhe. Eine enorme Entwicklung, aber auch ein riesiger Stein, der den Hügel hochgewälzt werden musste. Heute versehen weltweit 35 unserer Absolventen ihren Dienst: in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg und Österreich, aber auch in Israel, Südafrika und den USA. Wir haben 165 Studierende in der Jüdischen Theologie, das ist eine Erfolgsstory seit dem Beginn 2013.

Und nun bekommt die Jüdische Theologie endlich ihr eigenes Domizil am Neuen Palais.

Wir haben rechtzeitig zum 20. Jubiläum das Richtfest für eine sehr ansehnliche Liegenschaft gefeiert, die uns hoffentlich eine stabile Basis für die Zukunft gibt. Wie sagt man doch: wer ein Haus baut, der will bleiben. Leider fehlt bis heute die Zusage des Brandenburger Innenministeriums zur Übernahme der Sicherheitskosten. Das beschämt mich, auch angesichts der steigenden Bedrohungslage von Juden in Deutschland und von Übergriffen auf Kippa-Träger in Berlin und Potsdam.

Sie sind dennoch optimistisch.

Wir sind auf jeden Fall Teil eines erfreulichen Umschwungs nach der Wende zu einem Deutschland, in dem das Judentum eine Zukunft hat. Wir haben die Geistlichen, die wir seit 2006 ausgebildet haben, kontinuierlich in Deutschland und Europa und darüber hinaus platzieren können.

Das hat sich herumgesprochen.

Ja, wir haben wir damit eine Marke entwickelt, ein Standing: aus einem winzigen Saatkorn wurde eine Institution, die international wahrgenommen wird. Auch als Ort, an dem jüdische Wissenschaft betrieben wird; das wird zum Beispiel dadurch deutlich, dass die Jüdische Theologie in den deutschen Judaisten-Verband integriert werden konnte. Neben den Jüdischen Studien und der Judaistik hat die Rabbinerausbildung so nun auch fachspezifisch eine Heimat gefunden. Aus Potsdam sind übrigens die Jüdischen Studien ebenso wie die Jüdische Theologie hervorgegangen.

Nun ist Zeit zum Luftholen?

2020 werden wir eine große Ordinationsfeier haben, mit vielen Absolventen aus verschiedenen Ländern. In unserem neuen Domizil im Nordtorgebäude wird das den nötigen Rahmen bekommen. Das kommende Jahr schließt also viele Anfangsentwicklungen ab. Wir können dann hoffentlich im neuen Gebäude am Neuen Palais die zwei Jahrzehnte des Aufbaus konsolidieren.

Nach vorne schauen. Alina Treiger (l.) wurde 2010 als erste deutsche Rabbinerin nach der Schoa in ihr Amt eingeführt. Sie wünscht sich, dass sich der geistliche Nachwuchs durch „positive Erfahrungen“ identifiziert – und nicht nur an negative Erfahrungen anknüpft. 
Nach vorne schauen. Alina Treiger (l.) wurde 2010 als erste deutsche Rabbinerin nach der Schoa in ihr Amt eingeführt. Sie wünscht sich, dass sich der geistliche Nachwuchs durch „positive Erfahrungen“ identifiziert – und nicht nur an negative Erfahrungen anknüpft. 

© Marcel Mettelsiefen, dpa

Das Abraham Geiger Kolleg bildet ausschließlich liberale Rabbiner aus...

Da stehen wir nicht in einem Gegensatz zwischen liberalen Gemeinden der Union und Einheitsgemeinden. Viele unserer Absolventen versehen ihren Dienst in Einheitsgemeinden, so sind etwa in Berlin der Rabbiner Boris Ronis in der Synagoge Rykestraße und Kantor Isidoro Abramowicz in der Synagoge Pestalozzistraße Potsdamer Absolventen.

Warum haben Sie auch die konservative Strömung nach Potsdam geholt?

Wir haben uns bewusst geöffnet und machen an der School of Jewish Theology die Ausbildung mit einem konservativen Zweig zusammen. Da sind immer auch Abgrenzungen zu klären. Aber die Botschaft ist, dass wir gemeinsam das jüdische Erbe in dieses und das nächste Jahrhundert tragen. Das ist die Klammer. Die Einheit ist uns wichtiger als die Verschiedenheit. Diese Konstellation ist international einzigartig – und bietet Kandidaten, die ihren Weg noch nicht genau kennen, eine Wahlmöglichkeit.

Wie ist das Verhältnis zu den Christen und Muslimen?

Wir kooperieren in der praktischen Ausbildung bereits mit dem Institut für Islamische Theologie Osnabrück, der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel und mit der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznán. Die School of Jewish Theology wird immer mehr zum Forum für den akademischen interreligiösen Austausch. Mein eigener Lehrstuhl ist diesem Schwerpunkt gewidmet.

Angehende Rabbiner aus Potsdam. 
Angehende Rabbiner aus Potsdam. 

© Ralf Hirschberger, picture alliance / dpa

Wofür sind die Potsdamer Rabbiner heute in der Welt bekannt?

Unser Markenzeichen ist der hohe Stellenwert akademischer Ausbildung nach dem Humboldt’schen Ideal: Bildung soll nicht Ausbildung sein, sondern Persönlichkeitsbildung. Man soll unsere Absolventen daran erkennen, dass sie die Tiefendimension der wissenschaftlichen Betrachtung als wichtig erachten. Deshalb legen wir großen Wert auf die philosophische und systematisch-theologische Ausbildung. Das wird in anderen Ländern so nicht gemacht. Diese Gründlichkeit ist ein hervorstechendes Merkmal für die Potsdamer Absolventen. Wir geben uns in den fünf Jahren sehr große Mühe, eine komplexe Ausbildung zu vermitteln.

Also eher komplizierte Zeitgenossen?

Nein, ich stelle gerade wegen dieser tiefgehenden Ausbildung fest, dass unsere Rabbiner in den Gemeinden Erfolg haben. Wer unterschiedliche Herangehensweisen hat, predigt sich nicht leer, hat kein Repertoireproblem, sondern kann in der Gemeindearbeit immer neue Perspektiven bieten. Im Zentrum der praktischen Ausbildung steht die pastorale Hilfestellung. Unsere Rabbiner werden darauf vorbereitet, Menschen in existenziellen Situationen – glücklich wie traurig – menschliche Zuwendung zu geben. Als nächsten Schritt wollen wir die Unterrichtssprache auf Englisch umstellen, um international weitere Interessenten anzusprechen.

Sie setzen auch bei den Kantoren neue Akzente.

Was die Kantorenausbildung anbelangt, pflegen wir seit 2007 die deutsch-jüdische Synagogaltradition mit Orgel. Das schließt aktuelle Trends nicht aus. Wir glauben, dass die Kenntnis unserer musikalischen Tradition und ein breit gefächertes internationales Repertoire unabdingbar sind. Wir hören im Alltag ja auch nicht immer nur Pop, sondern ebenso Klassik. Wir setzen hier auf eine fruchtbare Zusammenarbeit mit der Franz-Liszt-Musikhochschule in Weimar und dem dortigen Professor für die Geschichte der Jüdischen Musik, Jascha Nemtsov.

Gab es in den Gründungsjahren Vorbehalte und antisemitische Anfeindungen?

Antisemitische Vorfälle sind mir keine bekannt. Aber wer ein Rabbinerseminar an einer Universität aufzieht, stößt natürlich auch auf Vorbehalte. Glücklicherweise haben die meisten anfangs gedacht, dass das ohnehin nichts wird. Insofern hatten wir nicht zu viel Gegenwind. Mit unserem neuen Gebäude werden vielen Menschen erst die Augen aufgehen, was wir da eigentlich geschaffen haben. Der Zuwachs von Antisemitismus in Deutschland ist weltweit ein Thema, unlängst hat auch die New York Times darüber berichtet. Dadurch brechen viele Bedenken wieder auf, die in den vergangenen Jahren gegenüber Deutschland abgebaut worden waren. Das Ansehen Deutschlands im Ausland bleibt ein zartes Pflänzchen. Wir haben zusammen mit vielen anderen Institutionen im Land jahrelang hart daran gearbeitet, in der jüdischen Weltgemeinschaft Vertrauen zu schaffen – dazu gehört auch unsere Rabbinerausbildung. Doch nun kommen die alten Bedenken wieder hoch.

Gab es auch Stimmen gegen Deutschland als Standort?

Ich kann mich da an eine sehr unangenehme Situation erinnern, auf einer Konferenz auf europäischer Ebene, bei der ich seinerzeit von der beabsichtigten Gründung des Kollegs berichtet hatte. Ein Kollege aus den Niederlanden sprang emotional aufgewühlt auf und fragte, wie man denn auf der Asche von sechs Millionen ermordeter Juden eine Rabbinerausbildung gerade in Deutschland begründen könne. Er war als Angehöriger von Opfern der Schoa nicht zu überzeugen.

Ihre Antwort?

Auf so etwas kann man erst einmal nichts antworten. Damals musste das im Raum stehen bleiben. Es war aber Ansporn, zu zeigen, wie sinnvoll unser Vorhaben ist und wie erfolgreich es sich entwickeln wird. Ich denke, wir haben die 20 Jahre genutzt, um zu zeigen, was für einen großen Schritt nach vorne das Kolleg für das Judentum bedeutet. In Frankreich wäre solche Kooperation zwischen Universität und geistlicher Ausbildung wegen des Prinzips der Laizität nie möglich gewesen. Mittlerweile gibt es sogar eine orthodoxe Rabbinerausbildung in Berlin, so gesehen waren wir also Trendsetter.

Sie haben im vergangenen Jahr gesagt, dass es bei 20 Prozent antisemitischer Einstellung in Deutschland immerhin noch 80 Prozent gibt, die anders denken. Würden Sie das heute so wiederholen?

Ich bin da immer noch sehr optimistisch. Andererseits ist es aber klar, dass sich auch das Land Brandenburg nun vor bestimmten Realitäten nicht verschließen darf. Ich denke an die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke im Juni oder an den Übergriff auf einen Kippa-Träger im Potsdamer Hauptbahnhof durch einen syrischen Geflüchteten Ende Juli.

Das heißt?

Das Land Brandenburg hat viel dafür getan, das Abraham Geiger Kolleg und das Institut für Jüdische Theologie in Potsdam heimisch werden zu lassen. Dann muss man sich aber auch zur Übernahme der Sicherheitskosten bereit erklären, die durch ein Ansteigen der Gefährdungslage unausweichlich erscheinen. Das Land muss sich im Klaren sein: wenn am Nordtorgebäude etwas passiert, wird das weltweites Aufsehen nach sich ziehen. Das Land hat hier eine enorm große Verantwortung. Wir erwarten, dass das Brandenburger Innenministerium hier klar Stellung bezieht, möglichst noch vor den Wahlen im September.

Ist die Entwicklung in Potsdam ein Zeichen für die Normalisierung jüdischen Lebens in Deutschland?

Normal ist etwas anderes. Ich würde aber immer noch sagen, dass das Glas zumindest halb voll ist und nicht halb leer. Sicherlich gab es auch frustrierende Momente. Es verläuft nicht immer alles reibungslos. Viele haben sich dafür eingesetzt, dass die Jüdische Theologie und die Rabbinerausbildung in Potsdam ein Erfolg werden. Das Land Brandenburg hat Investitionen nicht gescheut und sich damit enorm engagiert. Was wir jetzt brauchen, ist eine bessere Abstimmung zwischen den Ministerien für Wissenschaft, Finanzen und Inneres, um die noch offenen Fragen zu klären. Diesen Schritt sähe ich als Bekenntnis, dass unsere Arbeit für eine Renaissance jüdischen Lebens in Europa Wertschätzung erfährt.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

Walter Homolka (55) ist Rektor des 1999 von ihm mitbegründeten Abraham Geiger Kollegs an der Uni Potsdam und seit 2014 Professor für Jüdische Religionsphilosophie.

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HINTERGRUND

Das Abraham Geiger Kolleg wurde durch die Rabbiner Walter Jacob und Walter Homolka am 17. August 1999 in Potsdam gegründet. Es war das erste Rabbinerseminar Deutschlands nach der Schoa. 2006 wurden die ersten Absolventen ordiniert. 2007 kam eine Kantorenausbildung hinzu, die mit der Weimarer Musikhochschule kooperiert. 2010 wurde mit Alina Treiger die erste deutsche Rabbinerin nach der Schoa ordiniert. 2013 gelang mit Uni-Präsident Oliver Günther die Errichtung des ersten Instituts für Jüdische Theologie in der deutschen Universitätsgeschichte. Im August 2020 sollen das Abraham Geiger Kolleg und die School of Jewish Theology am Uni-Standort Neues Palais ein gemeinsames Domizil erhalten. Bis jetzt haben 35 Rabbiner und Kantoren ihr Studium abgeschlossen. Aktuell gibt es 17 Studierende für das Rabbinat, acht für das Kantorat; neun der Studierenden sind Frauen. Der Studiengang Jüdische Theologie der Uni hat derzeit 165 Studierende. 

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