zum Hauptinhalt

Potsdamer Studentenfilmfestival Sehsüchte: Familiensachen

Der Hauptpreis des 46. internationalen Studentenfilmfestivals Sehsüchte ging dieses Jahr nach Finnland. Das Festival hat sich am Studioglände eingespielt und besticht durch seine Internationalität.

Potsdam. Am Ende bleibt sich der Studentenfilm treu. Die wichtigsten Preise der diesjährigen Sehsüchte gingen in erster Linie an Filme, die sich mit Familie, Heranwachsen, Adoleszenz und Beziehungen befassten – seit jeher Themen, die beim Nachwuchsfilm stark vertreten sind. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel: Auch der Film „Watu Wote“ (Regie: Katja Benrath) wurde bei der Preisverleihung am Sonntag ausgezeichnet – und zwar gleich zweimal mit dem Produktions- und dem Publikumspreis. Er fällt aus der Coming-of-Age-Thematik heraus, ist vielmehr dem Politischen verhaftet, zeigt auf drastische Weise die Konfliktlinien der religiös-ethnischen Auseinandersetzungen unserer Zeit: In Kenia wird ein Bus von Islamisten überfallen. Sie wollen die Christen töten, doch die muslimischen Mitreisenden beschützen sie völlig unerwartet.

Der Hauptpreis geht an einen Coming-of-age-Film aus Finnland 

Der Hauptpreis hingegen geht an einen Film, der sich mit dem Erwachsenwerden befasst. Das könnte langweilig und tausend-mal-gesehen ausfallen. Doch der finnische Film „The Happiest Day in the Life of Olli Mäki“ von Regisseur Juho Kuosmanen ist wie ein gutes Buch, das man nicht mehr weglegen kann. In klassischem Schwarz-Weiß inszeniert nimmt er die Zuschauer in die Welt der frühen 1960er-Jahre mit – ohne sie 92 Minuten lang wieder loszulassen. Und das, obwohl eigentlich gar nicht viel passiert. Der junge Olli Mäki soll Box-Weltmeister im Federgewicht werden. Zwischen den hohen Ansprüchen seines Managers und der noch ganz frischen Liebe zu seiner Freundin muss der junge Mann seinen eigenen Weg finden. Am Ende ist er glücklich, obwohl er eigentlich todtraurig sein müsste – weil er seine Prioritäten gesetzt hat.

Kino in seinem besten Sinne: große Leinwand, schöne Bilder, prägnante Dialoge 

Die leise und lakonische Erzählweise der Finnen ist dem Kinopublikum aus zahlreichen Kaurismäki-Filmen vertraut, doch Regisseur Kuosmanen hat seinen eigenen Stil. „Durch sensible Figurenführung, mit liebevollen Szeneneinfällen, stimmigen Rhythmuswechseln und einer hervorragenden Besetzung bis in die kleinste Nebenrolle, versteht es der Regisseur, uns in eine andere Zeit mitzunehmen“, so das Urteil der Jury. Das trifft es tatsächlich. Eigentlich nur ein Sport- und Liebesfilm, doch das ist Kino in seinem besten Sinne: große Leinwand, schöne Bilder, prägnante Dialoge. Ausstattung, Maske, Kostüm, Kamera und Ton greifen kongenial ineinander – ein perfekter Film, ohne dabei flach oder belanglos zu sein. „Präzise erzählt, mit überraschenden Wendungen und einer lebendigen Leichtigkeit“, so die Jury, die zu einem einstimmigen Urteil kam. Mit Recht. Nach diesem Film kann man das Kino beschwingt verlassen.

Dokumentarfilm-Preis an einen Film zu NS-Verbrechen in der Ukraine 

Ganz anders sieht das beim besten Sehsüchte Dokumentarfilm dieses Jahres aus: „Hinter dem Schneesturm“ von Levin Peter. Der Film hat großen Tiefgang. Der Regisseur hat seinen Großvater über ein Jahr lang immer wieder getroffen. Der weit über 90 Jahre alte Mann sitzt Tag für Tag in seinem Heimzimmer, die wenigen Sätze, die er noch sagen kann, drehen sich um die Vergangenheit. Auch, weil sein Enkel in die Ukraine reist, wo der Großvater als Wehrmacht-Soldat die Massenerschießungen der Deutschen miterlebt hat. Nein, er habe damit nichts zu tun gehabt. Doch er weiß natürlich, dass 10 000 Juden erschossen und in Gräben notdürftig verscharrt wurden.

Wie sie aussahen, die Männer, die das taten, will der Filmemacher wissen. „Wie du und ich“, antwortet der alte Mann. Eine Feststellung, für die Soziologen ganze Abhandlungen brauchen. Dem Film ist ein Zitat von Anna Achmatowa vorangestellt: „Wie im Vergangenen das Künftige reift, modert im Künftigen das Vergangene.“ Und so versucht der Regisseur, die Puzzleteile der Familienbiografie dem alten Mann zu entreißen, um dem wahren Bild ein kleines Stück näher zu kommen.

Der bereits bei First-Steps ausgezeichnete Film, der auf vielen Festivals gelaufen ist, hat die Jury durch seine vielschichtige Erzählweise überzeugt. Der Film visualisiere auf besondere Weise das Erinnern als Prozess und inneren Kampf. „Er konfrontiert uns mit einer Schuld und einem Schmerz, die die Zeiten überdauern“, so die Jury. Die sehr persönliche Annäherung ermögliche, eine Beziehung zu unserer eigenen Geschichte herzustellen. Tatsächlich verlässt man den Kinosaal tief in Gedanken versunken.

Das gilt auch für den besten Kurzfilm „Ce qui èchappe“. Der 26-jährige belgische Regisseur Ely Chevillot erzählt von der merkwürdigen Beziehung einer Mutter zu ihrem 12-jährigen Sohn. Nachdem er eine Mitschülerin bedrängt hat, konfrontiert die Mutter ihn mit seinem falschen Verhalten. Doch gleichzeitig scheint sie ihm selbst etwas zu nahe zu stehen. Die Jury kam zu dem Schluss, dass das Thema Missbrauch in dem Kurzfilm von starken Schauspielern sensibel dargestellt wird. „Dabei arbeitet der Film mit subtilen, nicht immer eindeutigen Momenten, die den Zuschauer Fragen stellen lassen.“ Tatsächlich ist es diese Zweideutigkeit, die den Film ausmacht. Zwischen dem Verhalten der Mutter und dem Fehltritt des Sohnes scheint es eine Verbindung zu geben.

Großartig auch der Sieger in der Kinder-Sektion „Wolkenreiter“ von Manuela Rüegg. Dem kleinen Maximilian geht es eigentlich so wie Mäki in dem finnischen Preisträgerfilm. Auch an ihn werden zu hohe Erwartungen gestellt, während er einfach sein Ding machen will. Nämlich Origami-Drachen basteln und in seiner Fantasiewelt leben. Als die ehrgeizige Mutter, die eigentlich nur mit ihrem Smartphone kommuniziert, dahinter kommt, dass der Kleine die Drachen aus den verhauenen Schultests bastelt, müsste es eigentlich zum Eklat kommen. Doch die Mutter besinnt sich eines Besseren.

Festival-Campus für Filmemacher ideal, für das breite Publikum etwas zu peripher

So wie bei den Preisträgern die Themen – unabhängig von der hohen Qualität der Filme – nicht wirklich etwas Neues waren, gibt es auch von dem Festival in diesem Jahr nichts wirklich Neues zu berichten. Die Besucherzahlen schwanken wie in den Vorjahren irgendwo zwischen 6000 und 7000, der Festival-Campus auf Filmuni- und Studiogelände ist für die Filmemacher ideal, für das breite Publikum aber etwas zu peripher. Ein Festivaltreiben wie einst im zentraler gelegenen Thalia-Kino mag sich nur zu den Spitzenzeiten einstellen. Doch das nur am Rande, das Festival funktioniert, es gab eine Unmenge an grandiosen Filmen zu sehen, der Samstagabend war komplett ausverkauft. Und mit ein bisschen Glück konnte man aus den vielen Sprachen der rund 180 eingeladenen internationalen Filmmacher die eine oder andere Anekdote heraus hören. Wie etwa die von der russischen Filmemacherin, deren Großmutter Russlands ersten Präsidenten Boris Jelzin aus der gemeinsamen Zeit in einem Kombinat kannte. Er sei damals schon dem Wodka zu sehr zugetan gewesen, hatte die Oma ihr verraten. Wer weiß, vielleicht können wir die Geschichte im nächsten Jahr in Babelsberg auf der Leinwand sehen.

Zur Startseite