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Potsdamer Studentenfilmfestival Sehsüchte: Anarchie, Wildheit, Provokation

Zur Eröffnung des Studentenfilmfestivals Sehsüchte appellierte der Potsdamer Regisseur Andreas Dresen an den Kampfgeist der Studierenden. Und die zeigen durchaus politisch relevante Filme.

Potsdam - Da stimmt etwas nicht. Das ist ganz klar. Nur was hier nicht stimmt, ist nicht so klar. Die heranwachsende Stacey schleift ihre Mutter über den Boden zum Frühstück, bei dem ihr dann das Gesicht in den Porridgebrei fällt. Wachkoma oder etwas Ähnliches. Nach draußen aber stimmt die Welt. Alles scheint in Ordnung bei Stacey und ihrer Mutter. Als allerdings ein merkwürdiger Alien im Wald auftaucht und es Tote gibt, wird klar, dass die Zuschauer von Regisseur Nelson Polfliet in seinem Film „Stacey and the Alien“ an der Nase herumgeführt werden. Die Mutter ist längst tot, Stacey hat eine sorglose Scheinwelt um sich herum aufgebaut.

Die vermeintlich heile Welt findet sich in mehreren Festivalbeiträgen wieder

Der Film ist eine von 130 Arbeiten, die noch bis zum 1. Mai beim Studentenfilmfest Sehsüchte an der Filmuniversität Babelsberg zu sehen sind. Die vermeintlich heile Welt, hinter deren Fassade es ganz anders aussieht, findet sich auch in anderen Filmen auf dem Festival wieder. In dem Dokumentarfilm „Herr und Frau Müller“ von Dominique Klein (Freitag, 20.30 Uhr, Kino 2, Filmuni, Marlene-Dietrich-Allee 11) erleben wir einen ganz normalen Tag mit den Müllers. Ein Spaziergang am See, eine politische Diskussion, das Bierchen am Abend. Nur dass Herrn Müller das Bier aus einem Infusionsbeutel per Sonde in den Hals läuft, dass der Spaziergang im Rollstuhl stattfindet und die Diskussion nur aus wenigen Worten bestehen kann. Denn die Wörter muss Frau Müller einzeln buchstabieren, ihr fast komplett gelähmter Mann kann nur per Augenzucken anzeigen, welcher Buchstabe für das Wort, das er sagen will, der richtige ist.

Die Welt der beiden ist also alles andere als in Ordnung, sie steht tagtäglich Kopf. Doch Frau Müller lässt sich nicht beirren, sie sorgt für eine provisorische Ordnung in ihrem wackeligen Leben.

Sehsüchte-Schirmherr Dresen: Auch damals war nicht alles in Ordnung

Das sind prekäre Welten, in denen die Menschen hier leben, in denen sie versuchen, das Beste daraus zu machen. Aber eigentlich stimmt nichts. Womit wir bei Sehsüchte-Schirmherr Andreas Dresen sind. Für ihn ist auch nicht mehr alles in Ordnung. Vor 30 Jahren hat der Filmuni-Absolvent und renommierte Regisseur selbst in Potsdam Studentenfilmtage erlebt. Auch damals war nicht alles in Ordnung, es waren bewegte Zeiten an der Babelsberger Filmhochschule kurz vor dem Ende der DDR. Eine beengte Welt, die plötzlich aufbrach. Nächtelang diskutierten die damaligen Filmstudenten über ihre Filme, über Ost und West, auch mit den ersten Weststudenten, die plötzlich auftauchten. Äußerst kontrovers sei das gewesen, eine wilde Zeit. Doch in bewegten Zeiten würden wir ja schließlich auch heute wieder leben. Und das müsse dann auch entsprechend diskutiert und auf die Leinwand gebracht werden.

Bei der Eröffnungsgala des Festivals brach es geradezu aus Dresen heraus. Er erwarte von den Studierenden und ihren Filmen Anarchie, Wildheit, Provokation und Durchgeknalltheit. „Streitet Euch, diskutiert Eure Filme, sagt Euch ohne Schleimerei, was ihr schlecht findet!“, rief Dresen. Und vor allem: „Findet andere Formen und Themen als die alten Säcke, fegt sie weg – bitte fegt auch mich weg“, echauffierte sich der Regisseur, der mit Filmen wie „Halbe Treppe“ und „Sommer vorm Balkon“ dem banalen Alltag immer wieder etwas Spektakuläres zu entreißen weiß. Und vor allem: keine Angst vor dem Scheitern. Als Studierender habe man noch Raum, etwas auszuprobieren. Es gehe nicht darum, einen perfekten Film als Bewerbung abzugeben, sondern den Finger in die Wunden der Zeit zu legen, zu sagen, dass es so nicht weitergehen kann. „In Zeiten wie diesen kann Kunst keine Komfortzone sein, in der man sich gepflegt berieseln lässt“, so Dresen. Sie soll aufwühlen – der Regisseur will Leidenschaft, Unvollkommenes, Zorn, Engagement und Abenteuer sehen – jenseits des Popcorntüten-Kinos, wie er betont.

Die heutigen Studierenden wirken eher brav, weniger impulsiv

Der Tumult im Publikum blieb aus. Es gab viel Applaus für den flammenden Appell des Festival-Schirmherren, doch es gab auch Popcorn für alle. Die Studierenden von heute sind eine andere Generation, sie wirken eher brav, sind weniger impulsiv, sind introvertierter, wirken mehr subversiv als plakativ. Doch ihre Filme – zumindest viele von denen, die gerade in Potsdam zu sehen sind – sind keineswegs glatt und angepasst. Sie spiegeln auf verschiedenste Weise die politischen Verwerfungen der Gegenwart wieder. Kein Agitprop, sondern oft auch eine stille Anklage zwischen den Zeilen.

Das Musikvideo „Walls“, das den Song „About her“ von Phazz neu interpretiert (Samstag, 21 Uhr, Kino 1) zeigt eine Welt aus Mauern, Stacheldraht und Begrenzungen, aus der drei junge Männer in ganz verschiedenen Kontexten nicht mehr herauskommen. Sie laufen gegen Wände und Zäune, in Palästina, Kroatien, auf der Balkanroute. Bis einer gegen die Mauer fährt, die das Westjordanland von Israel trennt. Oder „Les Courgettes de la Résistance“, ein Animationsfilm (Regie: Mélissa Idri, Benoit Lecailtel, Ivana Ngamou, Côme Balguerie), der sehr eindringlich die herablassende Herrschaft der Franzosen im Algerienkrieg zeigt (Samstag, 18.30 Uhr, Kino 1).

Das sind keine flachen Visitenkarten von Karrieristen, sondern ausdrucksstarke Betrachtungen von hoher Relevanz. So wie Andres Dresen es erwartet. Und auch zum Diskutieren und Streiten bleiben nun noch drei Tage Zeit

Das Programm im Internet >>

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