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Im goldenen Käfig. In der stets abgedunkelten Wohnung wird Marie von ihrer Mutter wie eine Leibeigene gehalten. Die Tochter sucht sich eigene Auswege.

© Sehsüchte

Potsdamer Sehsüchte: Abseits der Konventionen

Auf dem Sehsüchte-Festival der Filmuniversität Potsdam wurden 2018 mutige deutsche Produktionen ausgezeichnet.

Potsdam - Mutige Filme waren versprochen worden. Und ein mutiger Film hat am Sonntag dann auch einen der Hauptpreise (5000 Euro) des Studierendenfilmfestivals „Sehsüchte“ der Filmuni Babelsberg erhalten. „Brut“ von Constantin Hatz (Filmakademie Baden-Württemberg) ist kein lauter Film, kein aufdringlicher Film, aber eine Geschichte, die den Zuschauer nicht mehr loslässt – und die weit über alle Konventionen hinweggeht. Die 18-jährige Marie lebt mit ihrer Mutter alleine, in einer symbiotischen Beziehung, die mit Normalität gar nichts mehr zu tun hat. Fast schon ist Marie eine Gefangene der Mutter. Doch die Türen der Wohnung sind offen. Es ist eine psychische Abhängigkeit, die hier zum Gefängnis wird.

Marie vermag aus diesem Käfig nur auszubrechen, indem sie in der merkwürdig abgedunkelten Wohnung mit fremden Männern schläft, wenn die Mutter nicht da ist, auch in deren Bett – und schließlich auch, wenn sie da ist. Die beiden Frauen quälen sich gegenseitig mit Bevormundungen und Verletzungen, um sich schließlich wieder ihre Liebe zu gestehen, unter Tränen oder nach einem viel zu übergriffigen Kuss der Mutter – sie kommen nicht voneinander los. Wobei klar ist, dass erst einmal Marie das Opfer ihrer Mutter ist, die sie in der Wohnung hält wie ein Dienstmädchen, die sie abhängig macht, die sie dressiert wie ein Haustier. Doch mehr und mehr wird auch die Mutter zum Opfer der Tochter. Die beiden steuern auf eine Katastrophe zu. Aber ein gruseliges Ende vordergründig zu inszenieren wäre für diesen Film viel zu banal.

Ein erstaunliches Kammerspiel

„Brut“ ist ein langer Film (zwei Stunden) mit heute ungewohnt langen Einstellungen und sehr ausführlichen wie auch expliziten Sexszenen. Mutig, weil es heute eher ungewöhnlich ist, ein solches Kammerspiel vor die Kamera zu bringen, eine klaustrophobische Situation, wie Ingmar Bergman sie kaum besser hätte inszenieren können. Die Mutter, die mit der Tochter nur in manieriert-professoralem Ton spricht, die Tochter, die ihre Mutter fragt, ob sie sich befriedigt habe, nachdem sie Marie mit ihrem Liebhaber beobachtet hat, die weiter bohrt, ob die Mutter dabei gekommen sei, ob sie in ihrem Alter „überhaupt noch feucht“ werde. Die beiden überschreiten zunehmend Grenzen, die der Zuschauer mit überschreiten muss. Ein verstörender Film, den man so schnell nicht vergisst – eine erstaunliche Arbeit für einen Nachwuchsfilm.

Ebenfalls eine junge Frau steht im Zentrum des Films „Rå“ von Sophia Bösch, der nun als bester kurzer Spielfilm (2500 Euro) ausgezeichnet wurde. Die Produktion der Filmuni Babelsberg war bereits auf der Berlinale zu sehen, ein Coming-of-Age-Film, ein klassisches Initiationsthema. Für die 16-jährige Linn wird die gemeinsame Elchjagd mit dem Vater und seinen Jägerfreunden zum Übergang ins Erwachsensein. Fast hat sie es geschafft, als sie mit einem schnellen Treffer eine Elchkuh erlegt. Doch so einfach ist es dann doch nicht. Erstaunlich fand die Jury die Objektivität des Films, der trotz seiner stark emanzipatorischen Perspektive von einem ganzheitlichen Standpunkt aus gedreht worden sei. Ein handwerklich ebenso perfekter Film wie „Brut“.

Dokumentation über AfD-Strukturen

Wesentlich flacher wird die Welt, wenn man sich den Dokumentarfilm „Meuthens Party“ von Marc Eberhardt (Filmakademie Baden-Württemberg) anschaut, der in diesem Jahr den Preis für den besten langen Dokumentarfilm (5000 Euro) erhalten hat. Der Filmemacher hat den baden- württembergischen AfD-Spitzenkandidaten Jörg Meuthen im Wahlkampf begleitet. Ohne viel Hintergrund, ohne große Erklärungen wird hier deutlich, wie die AfD funktioniert. Wobei Meuthen nicht vorgeführt wird. Der Film ist nicht vordergründig entlarvend, es wird vielmehr nebenbei deutlich, worum es eigentlich geht. Die Menschen, die der Euro-Kritiker Meuthen anspricht, wollen keine Veränderungen, sie wirken nicht wie Radikale, sondern eher wie der nette schwäbische Nachbar, der Angst hat, seinen Lebensstandard zu verlieren – etwa durch Flüchtlinge oder europäische Regulierungen. Diese unreflektierte Angst vor vermeintlicher Überfremdung bedient Meuthen. Auch wenn er sich selbst immer als gemäßigt darstellt - und tatsächlich auch den Ausschluss eines Abgeordneten wegen antisemitischer Äußerungen aus der AfD-Fraktion gefordert hatte.

Doch die mehr als 15 Prozent, die er für seine Partei bei der Landtagswahl eingefahren hat, scheinen Meuthen alles andere ausblenden zu lassen. Extreme Positionen relativiert er. Und sagt, dass er dazu stehe, ein anderes Deutschland zu wollen, weg vom links-rotgrün „versifften“ 68er-Deutschland, hin zum reifen, freien, souveränen, friedlichen, wehrhaften, starken und sicheren Nationalstaat. Als er das alles auf dem Parteitag aufzählt, wird er umjubelt. Über einen italienischen Sympathisanten sagt er, dass der früher sicher ein waschechter Mussolinianhänger gewesen wäre. Es bleibt offen, wie er das meint. Aber das einvernehmliche Lachen sagt mehr als Worte. „Im Taumel der erfolgreichen Wahl zeigt Meuthen sein wahres Gesicht“, heißt es in der Begründung der Jury. In diesen Momenten dekodiere der Film Meuthens doppeltes Spiel. „Ein wichtiger Film, der genau beobachtet, wie Rechtspopulisten es schaffen, in der Mitte unserer Gesellschaft rechtes Gedankengut – wieder – salonfähig und erfolgreich zu machen“, so die Jury.

Das Festival verdient mehr Besucher

Auf eine ganz andere Suche hat sich Esther Niemeier mit ihrem Film „Tracing Addai“ (Produktion: Britta Strampe) begeben. Eine akribische Spurensuche nach einem jungen Deutschen mit deutsch-afrikanischen Wurzeln, der nach Syrien zu einer salafistischen Gruppe gegangen ist. Addai hatte sich ganz dem Koran verschrieben. Dann verlieren sich die Spuren. Bis er tot gemeldet wird, allerdings ohne das übliche Märtyrerschreiben der Salafisten. Viele hatten Zweifel, aber das durfte man nicht zeigen, sagt ein ehemaliger Mitstreiter. Was genau passiert ist, wird die Mutter wohl nie erfahren. Für die Produktion gab es den Produktionspreis (5000 Euro) – verdient für einen Dokumentarfilm, der durch Illustration und Abstraktion emotional anspricht. Erfreulich schließlich auch, dass der hinreißende Animationsfilm „Cream“ von Lena Ólafsdóttir den Animationspreis (1250 Euro) erhält. Mit altbewährter Knetfigur-Tricktechnik wird in wenigen Minuten die absurde Seite der Existenz aufgerollt. Worüber sich befreit lachen lässt.

Motto des diesjährigen Festivals waren Metamorphosen aller Art. Solche Wandlungen, die auch das Festival selbst seit den Tagen als FDJ-Veranstaltung über die Neugründung im Filmmuseum 1995, die Jahre im Studiokino, im Thalia-Kino bis hin zum Filmuni-Campus heute hinter sich hat. Heute ist es ein weltweit bekanntes, kleines, feines Festival für den Kreativnachwuchs, auch in diesem Jahr hatte man mit bis zu 5000 Besuchern gerechnet (genau Zahlen lagen am Sonntag noch nicht vor), es gab ausverkaufte Filmblöcke am Freitag und Samstag. Doch ein solches Angebot müsste noch viel besser besucht sein, müsste noch mehr Publikum aus der Region anlocken. Vielleicht wäre wieder einmal eine Verwandlung nötig.

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Weitere Preise:

Den Genreblock-Preis (2500 Euro) hat der Kurzfilm „Mascarpone“ von Jonas Riemer (Deutschland) gewonnen.

Die Auszeichnung für kurze Dokumentarfilme (2500 Euro) geht an „Kristian’s Prelude“ (Niederlande) von Winand Derks van de Ven.

Als Bester Teens-Film (2500 Euro) wurde der Kurzfilm „Sirene“ (Niederlande) von Zara Dwinger ausgezeichnet.

Der Kids-Preis (2500 Euro) ging in diesem Jahr an den Animationsfilm „Made in France“ (Frankreich) von den den Regisseuren Lamia Akhabbar, Robin Cioffi, Brice Dublé, Stanislas Gruénais, Maxime Guerry und Alexia Portal.

Den Drehbuchpreis (2000 Euro) erhielt Ella Cieslinsiki für das Skript „Le Heder“. 

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