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Neubewertung. Alexander Kranz (links) und Paul Fröhlich transkribieren die Diensttagebücher aus der NS-Zeit. Dadurch ergeben sich auch neue Aspekte.

© Andreas Klaer

Potsdamer Militärhistoriker: Das Diensttagebuch des Bendlerblocks

Historiker der Universität Potsdam haben eine bislang unerschlossene historische Quelle entdeckt. Nun arbeiten sie an einer kommentierten Edition des Diensttagebuchs des NS-Heeresamtes.

Vor einigen Jahren machte der der mittlerweile emeritierte Professor für Militärgeschichte an der Universität Potsdam, Bernhard Kroener, eine erstaunliche Entdeckung. Bei der Arbeit an einer Biografie über Friedrich Fromm, der von 1939 bis 1944 Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres war, fand Kroener in einer Fußnote den Hinweis zu einer bislang kaum bekannten Quelle. Dabei handelt es sich um ein inoffizielles Diensttagebuch, geführt von Offizieren, die Fromm nahestanden.

Hinweis auf die Tagebücher in einer Fußnote gefunden

Der Chef des Stabes, sozusagen der persönliche Referent des Chefs der Heeresrüstung und Befehlshabers des Ersatzheeres, protokollierte in dem Diensttagebuch Sitzungen, Telefonate und Ereignisse des Arbeitsalltags im Berliner Bendlerblock, der unter anderem Sitz des Allgemeinen Heeresamtes und des Chefs der Heeresrüstung war. Nach dem Zweiten Weltkrieg landete das Tagebuch, wahrscheinlich durch den britischen Geheimdienst, im Archiv des Imperial War Museum in London. Bernhard Kroener konnte die Verantwortlichen des Archivs davon überzeugen, ihm das Tagebuch zu überlassen. Seit etwa sieben Jahren arbeitet er nun, zusammen mit einer kleinen Forschungsgruppe, an einer kommentierten Edition, die etwa Ende 2016 erscheinen soll.

Vor allem die Transkription des Tagebuchs hat die Historiker vor ungeahnte Schwierigkeiten gestellt. Die komplett handschriftlichen Notizen sind größtenteils in Sütterlin verfasst, eine deutsche Schreibschrift, die bis in die 1940er-Jahre verwendet wurde. Erschwerend kam hinzu, dass die insgesamt vier verschiedenen Verfasser des Diensttagebuchs, Oberst Heinz Ziegler, Oberst Kurt Haseloff, Generalmajor Karl-Erik Koehler und Generalmajor Gerhard Kühne, jeweils einen eigenen Stil und eigene Abkürzungen verwendeten. Die Forschungsgruppe verbrachte somit viel Zeit damit, die Eintragungen zu entziffern und zu kommentieren. Einige Stellen konnten die Historiker gar nicht übersetzen. Sie werden in der Edition im Original abgedruckt sein.

Hinweise auf das geplante Hitler-Attentat "Operation Walküre"

Die insgesamt 24 Hefte umfassen den Zeitraum vom 31. Mai 1938 bis zum 31. Dezember 1943. Die Aufzeichnungen für das Jahr 1944 gelten als verschollen. Sie wurden von Claus Schenk Graf von Stauffenberg verfasst, der im Juli 1944 zu Fromms Chef des Stabes ernannt worden war. Der Band für das erste Halbjahr 1944 wurde wahrscheinlich nach dem gescheiterten Putschversuch vom 20. Juli 1944 von der Gestapo beschlagnahmt und später vernichtet. In den von der Potsdamer Forschungsgruppe gesicherten Bänden lassen sich dennoch indirekt Hinweise zur Operation Walküre finden. So wurde das Ersatzheer ständig in Alarmbereitschaft für Notfälle versetzt. Ein Indikator für einen geplanten Einsatz im Inneren des Reiches. Die Befehle dafür kamen direkt aus dem Bendlerblock in Berlin, ohne dass das Ersatzheer Kenntnisse über die genauen Pläne hatte.

Auch die Position von Friedrich Fromm zum Widerstand kann dank des Diensttagebuchs neu bewertet werden. So hat Fromm nicht nur von den Plänen gewusst und sie stillschweigend geduldet, sondern eine aktive Rolle gespielt. Bislang galt Fromm als zwiespältige Person, die ohne Hemmungen die Männer des 20. Juli hinrichten ließ, um seinen eigenen Kopf zu retten. Als Befehlshaber des Ersatzheeres konnten jedoch die im Diensttagebuch befindlichen Anweisungen, wie die ständige Alarmbereitschaft des Ersatzheeres, nur von Fromm stammen. Dessen Befehl zur Hinrichtung der Verschwörer wird in diesem Zusammenhang von Kroener als logische Konsequenz gesehen. Statt sie der Folter zu übergeben, die ihnen unweigerlich drohte, und damit eventuell weitere Miteingeweihte ans Messer zu liefern, ließ Fromm sie erschießen. Die neuen Aspekte, die das Diensttagebuch liefert, leisten somit einen wertvollen Beitrag zur Widerstandsforschung.

Forscher bewerten Fromms Rolle im Widerstand neu

Zu den Gräueln des Krieges und den Kriegsverbrechen findet sich kaum etwas in den Aufzeichnungen. Das bedeute aber nicht, so Alexander Kranz von der Forschungsgruppe, dass die Militärs im Bendlerblock nichts davon wussten. Wahrscheinlich haben sie, da es für den eigenen Tätigkeitsbereich der Heeresrüstung weitestgehend belanglos war, die Augen davor verschlossen. Der Großteil der Eintragungen spiegelt folglich den militärischen Alltag wider, wie die Aufstellung von Verbänden, Probleme bei der Ressourcenbeschaffung für den Krieg oder Auseinandersetzungen mit anderen Dienststellen. Deutlich wird, dass das System bereits zu Beginn des Zweiten Weltkrieges an einem chronischen Mangel an Ressourcen litt, insbesondere an Soldaten und Arbeitskräften für die Rüstungsindustrie. Diese „Verwaltung des Mangels“, wie sie Alexander Kranz bezeichnet, lief bis zum Einmarsch in die Sowjetunion allerdings erstaunlich gut.

Tausende Flaschen Wein aus Frankreich geordert - mitten im Krieg

Auch skurrile Begebenheiten sind im Tagebuch zu finden. So wurden seit 1940 Tausende Flaschen Wein aus dem besetzten Frankreich nach Berlin geschafft, wo es regelmäßig zu Trinkgelagen kam. Auch teurer Hummer wurde aus Norwegen importiert. Im Kontrast zum zeitgleich tobenden Krieg wirken solche Details recht bizarr und realitätsfern.

Wahrscheinlich stellen sie einen weiteren Versuch der Militärs im Bendlerblock dar, sich von der Kriegsrealität abzuschotten. Die Forschungsgruppe hat ihre transkribierte und kommentierte Edition an das ZMSBw (Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) mittlerweile übergeben, das für die Veröffentlichung und den Druck verantwortlich ist. Die drei geplanten Bände sollen voraussichtlich Ende 2016 unter dem Titel „Tagebuch des Chefs des Stabes beim Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres 1938 bis 1943“ erscheinen. Das originale Diensttagebuch soll dem Bundesarchiv überlassen werden.

Sarah Stoffers

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