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Potsdamer Medienwissenschaftler über die Macht der Bilder: „Auf dem Sprung in eine neue Welt“

Die digitale Bilderflut kündigt einen epochalen Umbruch an, sagt der Potsdamer Medienforscher Arthur Engelbert im PNN-Interview. In Zukunft werde sich die Ordnung von mentaler und physischer Fortbewegung durch den Einbruch von intelligenten Maschinen verändern.

Herr Engelbert, Sie haben über dreieinhalb Jahrzehnte die Wahrnehmung in Medien und Kunst betrachtet. Wie lässt sich der Wandel beschreiben?

Am Anfang der europäischen Epoche des Bildes in der Renaissance stand die Formel, dass die Welt zum Bild wird. Mit der Ölmalerei konnte alles genau dargestellt werden. Man stand als Betrachter vor diesem Abbild. Es ging um die Möglichkeit, alles umgebende über ein Bild verdichtet zusammenzufassen. Heute sind wir selbst ein Teil dieser Bilder, die nun digital verfügbar geworden sind.

Was hat sich dadurch geändert?

In diesem digitalen Bild sind die Zeitgenossen nun selbst mit eingebunden. Wir sind nicht mehr nur vor den Bildern und betrachten sie; wir sind auch nicht in den Bildern, sondern wir stellen Bilder her und verfügen über sie. Die Welt wird nicht mehr zum Bild, sondern der Bildgebrauch steht im Mittelpunkt. Das ist eine sehr komplexe Wechselwirkung.

Inwiefern?

Bilder drängen nun von Bild zu Bild auf Verwirklichung. In diesem Zwang sind wir heute als diejenigen, die über Bilder verfügen, die sie sich anschauen, involviert.

Zum Beispiel?

Zwecks Nachfrage, ob ein Produkt in einem Geschäft gemeint ist, machen wir schnell ein Foto mit dem Smartphone und schicken es zum Abgleich nach Hause – von den vielen anderen Möglichkeiten, die sich unter anderem mit dem Selfie bieten, mal ganz abgesehen. Es scheint so, als kommen wir da nicht mehr hinaus.

Ist das denn so problematisch?

Das habe ich nicht gesagt. Es ist vielmehr eine Feststellung. Die Verdichtung der Bildmedien ist heute so komplex geworden, dass Bilder nichts mehr ansichtig beziehungsweise sichtbar machen, sondern sie sind in demjenigen enthalten – im Auge oder in der Hand. Das ist völlig neu. So sind wir zum Beispiel bei der Explosion in einer Werkstatt, an der wir gerade vorbeikommen, nicht einfach verwundert und schauen gebannt hin, sondern wir handeln, rufen den Notdienst an oder machen ein Video, das wir sogleich auf Youtube setzen können.

Ist die politische Kraft von Bildern nicht außerordentlich groß? Ich denke etwa an das Bild des ertrunkenen syrischen Flüchtlingsjungen Ailan Kurdi an einem griechischen Strand.

Dieses Bild unterscheidet sich von anderen Bildern. Von solchen Bildern geht die Aufforderung zu einer Änderung im Umgang mit Flüchtlingen aus. Krisenbilder haben immer den Effekt der Hilfe und des Eingreifens. Darin kulminieren der Widerstand und das Unerträgliche. Letztlich lösen solche Bilder aber kein völliges Umdenken aus, sie befördern Engagement und Hilfe, bewirken aber keinen wirkliche Umkehr. Hier überschätzen wir die Möglichkeiten der Bilder alleine. Ohne einen politischen Zusammenhang sind sie wirkungslos.

Bilder werden heute zu Ikonen, die sich über Twitter und Facebook rasend schnell ausbreiten – etwa das Foto vom Marsch der Flüchtlinge 2015 von Ungarn nach Österreich. Insofern haben sie doch auch eine ganz andere Macht bekommen?

Es stimmt, es gibt die schnellen Bilder. Wir leben in einer Welt der Sofortinformationen. Unser Wissen von gerade dieser Stunde, diesem Tag hat ins Unermessliche zugenommen. Der Grad der Aktualität schwimmt von einer medialen Welle zur nächsten, und wir selbst versorgen uns, wann wir wollen, zum Beispiel mit den Infos der Suchmaschinen. Es scheint so, als ob wir dem technologischen Intervall der Medien restlos ausgeliefert sind. Das historische Korrektiv haben wir verloren.

Sollte die Politik die politische Wucht von Bildern heute in ihr Handeln mit einbeziehen?

Unbedingt. Aber wir müssen das Politische im Kleinen und im Großen sehr nüchtern abwägen. Das ist ein ungeheuer schwieriger Lernprozess. Das Foto von unserem gemeinsamen blauen Planeten, aufgenommen aus dem Kosmos, ist zu wenig. So wie das 19. Jahrhundert um die soziale Frage gerungen hat, das 20. Jahrhundert die technisch-technologische Frage aufgeworfen hat, das heißt, was wir eigentlich mit dieser Technik um uns herum tun wollen, so ist das 21. Jahrhundert gefordert, ethische Forderungen aus den sich anbahnenden beispielsweise biologischen Entwicklungen zu diskutieren und gesetzlich zu regeln. Es mag dabei hilfreich sein, die Visualisierungen genetischer Manipulationen bestens zu kennen.

Sie sagen, dass die Politik heute die selbstbestimmte Verantwortung über die technischen Bedingungen der Gegenwartskultur wieder erlangen muss. Was meinen Sie damit?

Durch die ständige Innovation von Anwendungen – etwa in der IT-Technik, Automobilindustrie oder ähnlichen Bereichen –, die Standards permanent auf eine neue Stufe bringen, hinken die Anwender, User, sprich: wir Menschen, hinterher. Für uns Zeitgenossen besteht ein Nachholbedarf. Die soziale, individuelle und vor allem auch politische Phantasie muss ebenso entwickelt werden. Mir waren in diesem Zusammenhang die anschaulichen Oberflächen der Medien und der Kunst wichtig: In den untersuchten dreieinhalb Jahrzehnten gab es durch die technische Entwicklung einen Ablösungsprozess.

Welcher Art?

Die Oberflächen, also die Bilder, sind intelligenter geworden. Es ist absehbar, dass schon bald mit diesen Oberflächen kommuniziert werden wird. Die Bilder sind heute sehr viel bewegter geworden; sie sind technisch produziert, nicht mehr von Hand gemacht. Das Herstellen von Bildern und Oberflächen wird heute über Maschinen errechnet; das sehen wir alle täglich auf den Displays. Und nicht zu vergessen: Alles ist visualisierbar, auch Töne und Gerüche sind in Daten erfassbar, darüber lassen sich Bilder und Medien gestalten.

Mit welcher Folge?

Das ist eine große Herausforderung, die sich immer deutlicher abzeichnet. Dieser Ablösungsprozess ist, kurz gesagt, eine Synthese von technischen und biologischen Parametern. Nehmen Sie Galileo Galilei, der aufgrund seiner Beobachtung der Himmelskörper zu dem Schluss kam, dass sich die Erde doch um die Sonne dreht. Dieses Bild ist dann auch im Biologischen, in unseren Köpfen entstanden. Unser zentrales Nervensystem produziert aufgrund von tätigen Synapsen Denkbewegungen, Überlegungen, Thesen, Erkenntnisse und Formeln. Diese Basis, von der wir ausgehen, ist eine biologische. Unser biologischer Apparat ist also das Ergebnis der Evolution. Gegenwärtig findet eine Übertragung von biologischen in technische Parameter statt.

Das müssen Sie genauer erklären.

Nehmen Sie unser Gespräch jetzt, das können in Zukunft auch Roboter für uns erledigen – zumindest das Vorgespräch. Das ist eine Folge dieser Entwicklung. Diese Roboter werden Dinge machen, die wir ihnen beibringen.

Klingt beängstigend.

Das müssen wir tatsächlich sehr kritisch betrachten. Denn letztlich geht es immer um die Frage, wer eigentlich entscheidet: Wer gibt die Kommandos, zu welchem Zweck werden diese Mittel genutzt, wer verfügt über die Macht, diese Entscheidungsprozesse in Gang zu setzen?

Was folgt daraus?

Die Aufgabe für unser Jahrhundert ist, Kontrollmechanismen für die Big- Data-Welt zu schaffen. Nehmen Sie beispielsweise die Medien oder die politische Ebene – hier werden Kontrollmechanismen nötig.

Um was zu kontrollieren?

Beispielsweise, welche Motivationen und Interessen hinter Publikationen beziehungsweise Informationen privater Medien stecken. Es muss unabhängige Institutionen geben, die nachfragen, was es mit den einzelnen Entscheidungsprozessen auf sich hat. So wie es beispielsweise im Bundestag Untersuchungsausschüsse gibt. Solche Kontrollinstanzen sind für Demokratien grundsätzlich. Warum sollte man diese nicht auch in dem Bereich schaffen, wo gegenwärtig der größte Informationsaustausch stattfindet – ausgelöst von einigen wenigen, die entscheiden, was für uns Nutzer wichtig ist oder wird.

Sie meinen die großen Internet-Unternehmen?

Zum Beispiel. Aber soweit müssen wir gar nicht gehen. Der VW-Skandal hat es direkt vor unserer Haustür gezeigt. Die Manipulation der Schadstoffwerte ist etwas, wofür es eine Kontrollinstanz geben sollte – was in den USA ja auch geschah. Aber man darf sich nicht auf eine ökonomische Selbstreinigung verlassen.

Zu den Kontrollinstanzen zählen in der Demokratie doch auch die Medien.

Die mediale Macht hat zugenommen. Wir leben in einer medial vermittelten Welt. Von sich aus tun die Medien nichts, was uns weiterhilft; es muss schon nationale, europäische beziehungsweise weltweit abgestimmte Grundrechte geben. Dahin ist es ein langer, aber lohnenswerter Weg. Das müssen wir von unseren Politikern verlangen. Und von den Verantwortlichen in den Medien selbst – wenn ich einmal dieses Gespräch positiv mit einbeziehe.

Was meinen Sie mit Ihrer Feststellung, dass die Zukunft immer im Voraus okkupiert wird?

Dass gesellschaftliche Vorhaben immer Zielvorgaben haben: das sind Jahresrhythmen, etwa in der Automobil- oder IT-Industrie. Diese Produktions-Rhythmen werden zwar kürzer. Aber das, was in der Gegenwart entworfen wird, kommt aus der Gegenwart und kommt auch auf diese Gegenwart wieder zurück. Im Grunde genommen verlängert sich die Gegenwart. Wir leben in einer verlängerten Gegenwart, ohne die Vision zu haben, über diese Grenzen hinauszugehen. Die großen Fragen – etwa Bevölkerungswachstum oder Einkommensverteilung – gewinnen nur dadurch an Schärfe, wenn man eine These dazu hat. Es geht eben nicht nur um Kritik, sondern vor allem um die Frage, was man damit macht, wie man es nutzen kann, etwa die Frage nach einem Grundeinkommen. Man braucht Theorie, um der Gegenwart etwas anderes entgegenzusetzen, damit sie nicht im Gleichlauf mit sich selbst immer nur die nächste Verbesserung hervorbringt.

Klingt nach kollektivem Hamsterrad

(lacht) Alle gesellschaftliche Phantasie – sei es beispielsweise die in der Wirtschaft oder auch diejenige in der Wissenschaft – hat es heute mit einem zeitlichen Ablaufplan zu tun; es wird in Zeiträumen geplant für Messen, Termine, Veröffentlichung et cetera. Infolgedessen entwirft man über den alltäglichen Horizont etwas für die nächsten etwa drei bis fünf Jahre. Der kürzeste Abstand ist – wie beim iPhone – ein Jahr.

Wie kommt man von diesem Befund nun wieder zu den von Ihnen untersuchten Bildmedien?

Es geht um einen Prozess, der quasi hinterrücks abläuft. Ich denke, dass wir ein durch Bilder angeleitetes Denken und Handeln haben. Die Planungen, die wir uns vornehmen, laufen sprichwörtlich wie im Film ab. Sie sind an Bildern orientiert. Die Bilder, die wir im Kopf haben, versuchen wir zu realisieren. Egal ob im Arbeitsprozess, der Freizeit oder im Urlaub. Was man vorfindet, hat man bereits in einem Bild – Katalog, Online et cetera – gesehen.

Ein Beispiel bitte!

Es gibt eine Fotografie von O. Winston Link aus dem Jahr 1956: Ein Pärchen sitzt in einem Cabriolet in einem Autokino, am Horizont fährt ein Zug vorbei, auf der Leinwand ist ein Flugzeug zu sehen. Hier finden sich die verschiedenen Medien, die geistigen Fortbewegungsmittel, die Bilder des Kinos und die physischen Fortbewegungsmittel Auto, Bahn, Flugzeug in einem Bild wieder. Hier versammelt sich alles, was damals modern war. An einem solchen Kulminationspunkt lässt sich erkennen, dass verschiedene aktuelle Entwicklungen der Verfügbarkeit und Beweglichkeit in nah und fern ineinander greifen. Das sind Prozesse, die sich erst in den folgenden Jahrzehnten ausformuliert haben. Bis hin zu dem heutigen Stand, dass wir in der Bewegung Bilder erzeugen und uns mit diesen von einem Ort zum anderen bewegen können. Es geht um bildbezogenes Handeln, das heißt, dass man praktisch in dem Vollzug der Bildmedien bereits mit enthalten ist. Wie schon gesagt: früher hat man das Bild nur betrachtet, heute ist der gesamten Prozess der Bildgenerierung, vom Aufnehmen bis zum Verschicken, zur Selbstverständlichkeit geworden.

 Was bedeutet die Zäsur der Computerkultur?

Es ist ähnlich wie beim Sprung vom 18. ins 19. Jahrhundert. Im 18. Jahrhundert hatte man sich eine vollständig übersichtliche Welt aufgebaut, die durch die Neuerungen nach der Jahrhundertwende mit der fortschreitenden Industrialisierung völlig aufgelöst wurde. Der Raum wurde durch die Technik erfasst. Etwas Ähnliches passiert heute gerade wieder. Heute wird dieser Raum nicht nur durch mentale und physikalische, sondern auch durch die verschaltete Bewegung durchdrungen. So gesehen haben wir das gleiche Problem wie damals, eine große Veränderung bahnt sich an. Die verfeinerten und intelligenteren Errungenschaften sind nun auf dem Sprung, uns eine neue Welt zu generieren.

Was kommt auf uns zu?

Wir bekommen eine andere Welt, in der die Ordnung von mentaler und physischer Fortbewegung durch den Einbruch von intelligenten Maschinen sich verändern wird.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

Arthur Engelbert: Politik und Bild. Eine Langzeitstudie zu Wahrnehmungsumbrüchen innerhalb der letzten dreieinhalb Jahrzehnte. Tectum Verlag, Marburg 2016. 680 Seiten, 44,95 Euro

ZUR PERSON: Arthur Engelbert (65) ist seit 1996 Professor für Medientheorie und Kunstwissenschaft an der FH Potsdam. Seit 2010 gehört er dem DFG-Graduiertenkolleg „Sichtbarkeit und Sichtbarmachung“ an der Universität Potsdam an. Im Jahr 2012 gründete Engelbert mit anderen Wissenschaftlern das Institut für angewandte Realitätsveränderung. Foto: Andreas Klaer

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