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Einfach genial. Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie aus dem Jahr 1915 gilt als eine epochale Leistung.

© AFP

POTSDAMER FORSCHER setzen Einsteins Theorie fort: „Seine Theorie war ihm selbst voraus“

Der Potsdamer Physiker Hermann Nicolai über Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie, den gekrümmten Raum, die mögliche Umkehr der Zeit und die Weltformel. Das große ungelöste Problem der Physik ist bis heute die vereinheitlichte Theorie, an der auch Nicolai arbeitet

Herr Nicolai, 100 Jahre Allgemeine Relativitätstheorie von Albert Einstein – sind mittlerweile alle Fragen geklärt?

Nein, keineswegs. Nach einem kurzen Aufblühen Anfang der 1920er-Jahre war es für einige Jahrzehnte sehr still um die Theorie geworden, aber seit etwa 50 Jahren rückt sie immer stärker in den Mittelpunkt der Physik. Damit stellen sich zahlreiche neue Fragen, und es eröffnen sich völlig neue Perspektiven für ihre Anwendung.

Inwiefern?

Sie spielt in allen Fragen der modernen Kosmologie und Astrophysik eine zentrale Rolle. Fragen etwa nach den Schwarzen Löchern lassen sich ohne Einsteins Theorie nicht beantworten. Gleiches gilt für Evolution, Dynamik und Entwicklung des gesamten Universums.

Die Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt die Physik der Sterne, Galaxien, des Universums. Die Welt der kleinsten Dinge, der Quanten und Photonen aber

die hört auf andere Gesetzmäßigkeiten. Und das ist die große Herausforderung für uns. Das große ungelöste Problem der Physik ist die Frage, wie die Quantentheorie mit der Relativitätstheorie unter einen Hut gebracht werden kann.

Sie arbeiten am Potsdamer Einstein-Institut an vorderster Front daran mit. Wie weit ist man vom Durchbruch entfernt?

Schwer zu sagen, das Bild ist derzeit diffus. Es gibt viele Ideen und Zugänge, am prominentesten davon sicherlich die Stringtheorie, aber es fehlen entscheidende Einsichten. Und wir wissen auch nicht, wie lange es noch dauern kann, bis die Lösung gefunden wird.

Woran hapert es?

Zum Beispiel an der Frage, welche Vorhersagen sich überhaupt aus einer solchen Theorie ableiten lassen, die sich dann im Experiment eindeutig verifizieren oder falsifizieren lassen. Ein weiteres Problem ist das „Kräfteverhältnis“ zwischen der Gravitation und den anderen Kräften: Da klafft eine riesige Lücke, nämlich ein Faktor von 10 hoch 40 – das ist eine Eins mit 40 Nullen.

Können Sie das veranschaulichen?

Nehmen Sie einen kleinen Magnet und halten eine Heftklammer darunter. Der Magnet zieht die Klammer nach oben, und überwindet damit die gravitative Anziehungskraft des ganzen Erdballs, der sie nach unten ziehen will! Das veranschaulicht das Kräfteverhältnis sehr gut.

Daher hat man sich auch am AEI auf die Suche nach Gravitationswellen gemacht?

Die Schwäche der Gravitation im Verhältnis zu den anderen Naturkräften ist einer der Gründe, warum es so schwierig ist, Gravitationswellen direkt zu messen. Deren Existenz folgt direkt aus der Allgemeinen Relativitätstheorie, und wurde von Einstein schon 1916 vorhergesagt.

An diesem Mittwoch startet eine erste Satellitenmission ihres Instituts zum Nachweis der Gravitationswellen. Warum ist der von so großer Bedeutung?

Indirekt nachgewiesen sind sie ja schon. Ein direkter Nachweis könnte schon in den nächsten Monaten gelingen, und das wäre dann zunächst einmal eine Meisterleistung unserer experimentellen Kollegen. Bedeutend wäre der Nachweis vor allem, weil die Detektion von Gravitationswellen ein neues Zeitalter der Physik einläuten würde – das Zeitalter der Gravitationswellenastronomie. Damit könnten wir dann bis zum Anfang des Universums zurückschauen – und so vielleicht neue Einsichten gewinnen, wie die Physik im ganz Großen mit der im ganz Kleinen zusammenhängt.

Sie meinen die Weltformel, die alles beschreibt.

Das ist eine gängige Bezeichnung, aber ich ziehe es vor, von einer vereinheitlichten Theorie zu sprechen. Diese soll nicht nur Quanten- und Gravitationsphysik zusammenbringen, sondern auch erklären, warum beispielsweise das Menü von Elementarteilchen, welches wir im Standardmodell vorfinden, so ist, wie es ist. Dieses Modell ist ja extrem gut bestätigt.

Wird die Antwort darauf vielleicht irgendwann einmal aus Potsdam kommen?

Es wäre vermessen, so etwas anzunehmen. Aber Sie haben recht, nicht immer kommen die richtigen Antworten aus den Weltzentren der Forschung. Die entscheidende Idee erfordert vielleicht einen Querdenker, der nun gerade nicht den Mainstream-Ideen aus Princeton oder Harvard folgt. Einstein hat ja seine ersten bahnbrechenden Erkenntnisse als einfacher Angestellter des Berner Patentamts weitab der führenden Wissenschaftszentren gewonnen.

Kann die Idee vielleicht aus der Philosophie kommen?

Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Die Philosophen haben trotz 2000 Jahre Nachdenkens nicht einmal die Kinematik von Raum und Zeit richtig verstanden, das gelang erst Einstein mit seiner Speziellen Relativitätstheorie 1905. Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie ist das bisher einzige Beispiel einer physikalisch richtigen Theorie, die durch reines Nachdenken gefunden wurde. Auch die Entdeckung der Quantenmechanik wurde ja nicht von der Philosophie vorangetrieben, sondern vom Wunsch, experimentelle Gegebenheiten zu erklären. Und ohne experimentelle Daten wäre kein Philosoph und kein Physiker auf die Quantentheorie gekommen, dazu ist diese Theorie viel zu verrückt. Dennoch spielt die Philosophie eine wichtige Rolle für uns Physiker, weil sie uns zwingt, die Begriffe klarer zu fassen und zu definieren.

Der menschlichen Vorstellung sind ja Grenzen gesetzt, etwa beim gekrümmten Raum, den die Theorie beschreibt.

Wenn man die Oberfläche eines Luftballons mit einem Blatt Papier vergleicht, kann man sich Krümmung schon ganz gut vorstellen. Schwieriger für die Vorstellung ist, dass auch die Zeit verbogen wird. Nicht nur der Raum, sondern die Raumzeit ist krumm – also Raum und Zeit in ihrer Gesamtheit.

Die Veränderung tritt ein, wenn man sich einer großen Masse nähert?

Ja, der Verlauf der Zeit hängt nicht nur vom Bewegungszustand einer Uhr ab, wie Einstein schon 1905 herausgefunden hatte, sondern auch vom Gravitationspotenzial, in dem sie sich befindet – so gehen Uhren auf der Oberfläche der Sonne etwas langsamer als hier auf der Erdoberfläche. Dieser Effekt lässt sich heute sehr präzise messen, und spielt beispielsweise bei Navigationssatelliten (GPS) eine wichtige Rolle. Im Extremfall – etwa am Horizont eines Schwarzen Loches – würde es von außen so aussehen, als käme die Zeit dort zum Stillstand.

Ist auch eine Umkehr der Zeit theoretisch denkbar?

Ja, die Einsteinschen Gleichungen lassen Lösungen mit geschlossenen Zeitlinien zu, so zum Beispiel im Inneren eines rotierenden Schwarzen Lochs: Da läuft die Zeit dann „im Kreis“. Wie realistisch solche Lösungen sind, darüber kann man natürlich diskutieren.

War es nicht genial, dass Einstein diese Zusammenhänge überhaupt erkannt hat?

Absolut! Mit seiner speziellen Relativitätstheorie von 1905 war er bereits sehr weit gekommen – und der Schritt mit der Allgemeinen Relativitätstheorie 1915 war dann noch viel größer. Das war eine epochale Leistung, die zwar immer schon gewürdigt wurde, deren Einzigartigkeit aber erst jetzt so richtig ins öffentliche Bewusstsein dringt. Auch dass diese Theorie so genau stimmt: Die Forscher suchen seit Langem nach Abweichungen und Diskrepanzen, nicht nur in unserem Sonnensystem, sondern man versucht jetzt sogar, diese Tests auf kosmologische Skalen zu erweitern. Aber es stellt sich wieder und wieder heraus, dass Einstein recht hat – bislang zeigt das Theoriegebäude keinerlei Risse.

Und das obwohl Einstein in der Schule gar nicht so gut gewesen sein soll.

Dass extrem intelligente Kinder in der Schule durch Unterforderung schlechtere Leistungen bringen, wissen wir heute sehr gut. Einstein war aber gar nicht so ein schlechter Schüler, wie immer behauptet wird. Er ging ja mit 16 Jahren in die Schweiz, weil ihm das deutsche Schulsystem viel zu militärisch geprägt war, und er sich so auch dem Wehrdienst in der Reichsarmee entziehen konnte. In der Schweiz hat er ein sehr gutes Abitur gemacht. Dass die Sechs in der Schweiz die beste Note ist, hat vielleicht später zu dem Gerücht geführt, er sei ein schlechter Schüler gewesen – die Sechsen in seinem Abiturzeugnis waren aber Bestnoten.

Wann sind Sie zum ersten Mal auf Einsteins Theorie gestoßen?

Sie hat mich bereits als Schüler fasziniert. In den Schulbüchern und im Unterricht kam das natürlich viel zu kurz. Erst im Studium habe ich mich dann richtig damit auseinandergesetzt.

Was hat Sie an der Theorie so gereizt?

Dass sich das ganze Geschehen im Universum in eine Gleichung bannen lässt, die auf eine Zeile passt: Unser gesamtes Wissen über das Universum und die Schwerkraft steckt in dieser einen Gleichung! Zum Vergleich stelle man sich vor, ein Schriftsteller müsste seine gesammelte Weisheit in einer Zeile zusammenfassen. Diese äußerste Konzentration ist nur möglich dank der Mathematik. Weiter fasziniert mich, dass sich aus Einsteins Gleichungen völlig neue und exotische Phänomene ergeben. Das waren Dinge, die Einstein teilweise selbst nicht glauben konnte, wie etwa die Schwarzen Löcher. Seine Theorie war ihm selbst voraus!

Welche Frage treibt Sie heute noch um?

Wir verstehen zwar schon ziemlich viel – aber den übergeordneten Zusammenhang, wo sich alles zusammenfügt, verstehen wir nicht. Wie die Atome aufgebaut sind, ließ sich mit der Quantentheorie erklären. Dann hat man die Atome zerlegt in Elementarteilchen, von denen es inzwischen ziemlich viele gibt, und dafür haben wir jetzt das sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik. Aber es bleibt die Frage, wie das weitergeht, warum es starke, schwache und elektrische Wechselwirkungen gibt, oder ob es vielleicht noch weitere Kräfte gibt. Oder warum die Materie gerade aus den Quarks und Leptonen besteht, die wir in Experimenten sehen, und ob diese Elementarbausteine sich noch weiter zerteilen lassen. Die Suche nach dem Prinzip, das alles erklärt, hat Einstein bis zum Schluss bewegt. Er wollte, wie er sich ausdrückte, „dem Alten auf die Schliche kommen“.

Ihre Vorstellung von der Welt?

Ich finde es höchst erstaunlich, dass wir mit dem physikalischen Weltverständnis überhaupt so weit gekommen sind. Wenn man ins All schaut, wird klar, was für Winzlinge wir sind, auf einem kleinen Planeten, der um einen unbedeutenden Stern in der Milchstraße kreist, einer Galaxie, die mit ihren 100 Milliarden Sternen selbst nur ein Staubkorn im riesigen All ist. Und trotzdem versuchen wir zu verstehen, was das alles zusammenhält.

Nicht jeder kann verstehen, dass Wissenschaftler überhaupt nach dem großen Zusammenhang suchen.

Die Frage, was die Grundlagenforschung der Menschheit an praktischem Nutzen bringt, wird mir tatsächlich immer wieder gestellt. Das ist aber die falsche Frage. Die wenigsten wirklich großen Fortschritte der Wissenschaft wurden ausgelöst durch die Suche nach praktischen Lösungen für irgendwelche Alltagsprobleme. Grundlagenforschung liefert meist ungefragt Lösungen, zum Beispiel war das WordWideWeb, und damit letztlich auch das Internet, ein Nebenprodukt der Forschung am CERN. Ich würde also eher darauf setzen, dass irgendjemand eine merkwürdige Entdeckung macht – und plötzlich wird klar, dass man damit ein ganz anderes Problem lösen kann. Das wäre auch meine Hoffnung für die großen Probleme der Gegenwart, wie etwa die effiziente Konversion und Speicherung von Energie.

Die Praxis kommt erst nach der Theorie?

So ist es. Kreative Wissenschaft funktioniert nicht per Auftrag. Hätte man Heisenberg vor 90 Jahren gesagt, er solle sich lieber um praktische Probleme als um Atomphysik kümmern, also beispielsweise eine Kasse für Einkaufsläden entwickeln, die die Preise selbst lesen kann, er wäre nie und nimmer auf die Quantenmechanik gekommen. Doch der Laser- Scanner an der Kasse im Supermarkt funktioniert nur dank der Quantentheorie. Das ist Wissenschaft: Forscher sind von einer Sache fasziniert, wollen sie verstehen – und am Ende kommt man damit in einer ganz anderen Frage weiter.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller.

Hermann Nicolai (63) ist Direktor am Max- Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam. Aktuell läuft in Berlin eine Konferenz zu 100 Jahren Relativitätstheorie.

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