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Mit der ganzen Klasse. Die Aufarbeitung und Reflektion sozialer Umgangsformen im Unterricht ist nach Auffassung von Bildungsexperten besser als Sanktionen alleine. Generell habe direkte körperliche Gewalt an Schulen heute abgenommen. Gegenwärtig seien psychische Gewalt, Mobbing und Cybermobbing präsenter.

© dpa

Potsdamer Bildungsexperte über Gewalt an Schulen: „Keine einsamen Lösungen“

Bereits in den Kindergärten müssen soziale Normen vermittelt werden, um Mobbing und Gewalt an Schulen zu vermeiden. Das fordert der Potsdamer Bildungsexperte Wilfried Schubarth im PNN-Interview.

Herr Schubarth, zwischen zwei Schülern kommt es zu Gewalttätigkeiten – sollte der Lehrer ein Machtwort sprechen, um die Situation zu entschärfen?

Es sollte weniger ein Machtwort gesprochen, sondern eine längerfristig tragfähige Lösung gefunden werden. Generell ist jede Konfliktsituation anders. Hintergrundinformationen sind nötig, um die richtige Entscheidung treffen zu können. Zuerst einmal sollte man die Situation ergründen und Gewalt und Mobbing stoppen. Es muss auch geklärt werden, ob es sich um längerfristiges Mobbing oder einen Einzelfall handelt. Ganz wichtig ist es, sich dem Opfer zuzuwenden und es zu schützen, das wird nicht immer gleichrangig gemacht.

Und dann?

Dann sollte man die Situation aufarbeiten, dazu kann man dann auch andere Schüler hinzuziehen. Der Konflikt sollte auch als Chance für ein soziales Lernen gesehen werden. Dahinter steht die Frage, wie wir miteinander umgehen, welche Werte wir haben und was wir in der Schule an solchen Konflikte über den menschlichen Umgang miteinander lernen können.

Also keine einsamen Lösungen?

Einmalige Ermahnungen oder Sanktion werden recht häufig verhängt, doch sie bewirken recht wenig. Vielmehr sollte ein kooperativer Ansatz im Mittelpunkt stehen. Einzelgespräche können weiterhelfen, aber die Aufarbeitung und eine Reflektion der sozialen Umgangsformen mit der ganzen Klasse sind in der Regel wesentlich förderlicher. Sanktionen alleine sind zu wenig.

Was machen die Lehrer am ehesten falsch?

Es kommt immer wieder vor, dass ein Opfer von Mobbing oder Gewalt die Schule verlässt. Das ist keine gute Lösung, denn dann haben die Täter gewonnen. Leider gibt es solche schlechten Beispiele öfter.

Und im Konfliktfall selbst?

Die Lehrer weisen meistens den Verursacher zurecht oder schicken ihn raus, um den Unterricht fortzuführen. Damit ist die Sache aber nicht geklärt. Störungen sollten sofort besprochen werden, haben Vorrang. Es muss geklärt werden, wo das Problem, die Motive und Hintergründe liegen. Man muss zugleich auch nach vorne schauen und fragen, was zu tun ist, damit so etwas nicht wieder passiert. Das sollte in der ganzen Klasse oder auf Schulebene geklärt werden. Dazu gibt es auch sehr gute Präventions- oder Mediationsprogramme. Sehr wichtig ist, dass Umgangsformen, Werte und Regeln – etwa gegen Ausgrenzung und Gewalt – an der Schule verbindlich festgelegt werden. Auch können ältere Schüler darauf achten, dass die jungen Schüler sich in das Schulklima integrieren, damit Streit und Mobbing gar nicht erst dominieren.

Was spricht für Kooperation statt Sanktion?

Weil dadurch auch andere aus dem Vorfall etwas lernen können. Zusammen mit den Schülern sollten direkt im Anschluss an einen Vorfall die gemeinsamen Normen und Werte erarbeitet werden. Die Frage ist, wie sich Konflikte ohne Gewalt lösen lassen, wie man seinen Ärger anders ausdrücken kann.

Besteht nicht die Gefahr, dass man dadurch die Betroffenen vor der Klasse bloßstellt?

Mobbing ist meist ein dynamisches Gruppenphänomen, bei dem nicht nur zwei betroffen sind. Es gibt auch Mittäter, Unterstützer und Zuschauer. Diese sehr unterschiedliche Rollenstruktur muss der Klassenlehrer beobachten und aufarbeiten, um zu sehen, wer welche Rolle hat. Dann sollten andere Schüler die Aufgabe erhalten, das jeweilige Opfer in Zukunft zu beschützen und zu bestärken. Das macht den kooperativen Ansatz aus, dass alle mit hineingenommen werden. Das Problem ist nämlich, dass die Opfer häufig ausgegrenzt werden und alleine stehen. Auch der Täter sollte Mitschüler an die Seite gestellt bekommen, die ihm den richtigen Umgang zeigen. Dabei sollte es um Unterstützung und die Regeln der Klasse gehen.

Opfer ist heute auch ein Schimpfwort.

Dadurch wird auf Kosten anderer das eigene Selbstwertgefühl gestärkt. Man ist froh darüber, nicht selbst das Opfer zu sein, sondern Teil einer stärkeren Gruppe. Es geht um Macht und Einfluss – gerade im Jugendalter will niemand ausgrenzt sein, sondern zu den Starken gehören. Die Täter sind bei den anderen Schülern oft auch beliebt.

Wann müssen Gegenmaßnahmen ansetzen?

Möglichst früh. Grundsätzlich muss bereits in den Kitas und der Grundschule das Sozialverhalten geschult werden. Dann ist der Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule sehr wichtig, um sich über Umgangsformen zu verständigen und diese im Alltag einzuüben. Dabei geht es auch um Vorbildfunktionen. Das fängt ganz oben an, wie der Schulleiter mit Kollegen umgeht, dann die Lehrkräfte mit den Schülern und schließlich unter den Schülern selbst. Das ist ein Art Lernmodell. Hier kann Schule sehr viel machen, gerade auch in sozialen Brennpunkten.

Haben Gewalt und Mobbing an den Schulen zugenommen?

Generell sagt die Forschung, dass in den vergangenen Jahren Gewalt und Mobbing an Schulen abgenommen haben. Allerdings muss man hier die Formen der Gewalt unterscheiden. Der direkte Vergleich mit Ergebnissen aus den 1990er- Jahren zeigt insbesondere eine Abnahme von direkter körperlicher Gewalt, bei der psychischen Gewalt gibt es Hinweise, dass sie teilweise angestiegen ist. Das Thema ist immer wieder präsent, ein neues Thema ist nun Gewalt von, aber auch gegen Lehrer. Eine These ist, dass sich die Formen der Gewalt gewandelt haben, weil körperliche Gewalt stärker geächtet wird. Mobbing und gerade auch Cybermobbing sind heute präsenter.

Was weiß man über die Ursachen von schulischer Gewalt?

Wir haben es mit einem sehr komplexen Thema mit verschiedenen Ursachen zu tun, das bereits in den Familien beginnt und dann über Kindergarten und Schule weiter getragen wird. Die Kindergärten werden immer wichtiger, hier sollten die sozialen Normen bereits vermittelt werden. Komplizierter wird es dadurch, dass die Gesellschaft heterogener geworden ist – wir haben es mit unterschiedlichen Wertvorstellungen und Erziehungsmethoden und Milieus zu tun. Hier ist es ganz wichtig, eine gemeinsame Basis zu finden.

Sie betonen einen Wertekonsens, wie sollte der aussehen?

Eine Ablehnung von Gewalt und Ausgrenzung, gegenseitiger Respekt und Anerkennung sind wichtig – und dass man auch eingreifen muss. Das sollte schon in den Familien vermittelt werden, ist aber heute ein Stück weit aufgelöst. Das muss nun wieder hergestellt werden durch Diskussion und pädagogische Programme in Kita und Schule. Klar sein muss, dass Entscheidungen nicht nur autoritär getroffen, sondern mit Argumenten begründet werden sollten. Wichtig in den Schulen ist, auch die Perspektive des Opfers zu betrachten, zu fragen, wie sich das Opfer fühlt und klar stellen, dass man Gewalt nicht zulässt. Wir konnten nachweisen, dass der Klassenlehrer eine sehr wichtige Vorbildfunktion hat. Es hat Auswirkung auf die ganze Klasse, wenn er eingreift.

Welche Rolle spielt der Leistungsdruck?

Der Leistungsdruck ist ein Aspekt eines ganzen Bündels von Ursachen. Es geht auch um das Lernklima: neben Leistung und deren Bewertung ist auch der soziale Umgang miteinander sehr wichtig. Nicht nur das Fachlernen sollte im Vordergrund stehen, sondern die gesamte Entwicklung der Schüler als Menschen. Wenn eine Schule soziale Kompetenzen vermittelt, ist das eine gute Vorbeugung gegen Gewalt und Mobbing. Durch die starke Fokussierung auf Tests und Vergleichsstudien finden heute andere Aspekte wie Konfliktlösungskompetenzen, soziales Lernen und demokratische Umgangsformen möglicherweise nicht mehr ausreichend Platz an den Schulen. Diese Themen stehen jetzt aber im Rahmenlehrplan, das ist eine Chance, sie wieder stärker zu betonen. Denn Deutschland schneidet gerade bei politischer Bildung, Partizipation und demokratischen Kompetenzen nicht so gut ab.

Das Leistungsprinzip ist immer wieder in der Kritik, wenn es ums Lernen geht.

Es sollte um eine Balance aus Leistung und sozialen Aspekten gehen. Es ist wichtig, den ganzen Menschen und seine Persönlichkeit zu sehen, das ist im Schulgesetz so verankert. Auch von den staatlichen Schulen wäre zu wünschen, dass dies stärker beachtet wird. Das hängt aber natürlich auch sehr von den Ressourcen und Möglichkeiten ab.

Wie kann es gelingen, möglichst alle Schüler im Unterricht zu befähigen?

Das sollte natürlich das Ziel sein. Aber die Ungleichheit fängt schon in den Familien an. Die Schulen schaffen es – trotz großer Anstrengungen – nur bedingt, diese soziale Ungleichheit zu überwinden. Deutschland ist international in dieser Frage weit hinten, die soziale Herkunft ist bei uns weiterhin entscheidend für den Bildungserfolg. Da treten wir auf der Stelle. Grundsätzlich müsste daher mehr in das Schulsystem investiert werden.

Viele Eltern haben heute auch das Gefühl, zu Hilfslehrern zu werden.

Die Elternstudie hat tatsächlich nachgewiesen, dass die Eltern zunehmend in die Hausaufgabenbetreuung und das Lernen mit einbezogen werden. Das ist problematisch, weil das nicht alle Eltern gleichmäßig leisten können. Es ist sicher nicht gut, wenn Schulen verstärkt auf Elternarbeit setzen. Hier wird die Balance verschoben. Die Schulen müssen so gut ausgestattet werden, dass sie in ihrem eigenen Rahmen den Bildungs- und Erziehungsauftrag selbständig erfüllen können. Auch wenn Elternarbeit und Kooperation wichtig ist, eine solche Auslagerung geht nicht.

An den Hochschulen ist mittlerweile die Studierfähigkeit der Schulabgänger ein großes Thema. Weil Schulen versagen?

Die Verminderung von Fragen der Persönlichkeitsbildung, von sozialen und demokratischen Kompetenzen kommt in der Verlängerung auch an den Hochschulen an. Wir müssen mittlerweile in Vorstudienphasen die Studierenden besser auf das Studium vorbereiten, weil die Schulen das offenbar nicht mehr ausreichend leisten oder leisten können. Studierende stecken oft auch noch stark in ihrer Schülerrolle, sind auf Prüfungen und Noten fixiert. Selbstständiges und kritisches Denken wurde in den Schulen offenbar nicht ausreichend gefördert. Breitere Bildung, eigene Interessen und selbständiges Vertreten von Meinungen treten tendenziell in den Hintergrund. Das hängt mit der Gesellschaft insgesamt zusammen. Auch wir Hochschulen müssen darüber nachdenken, wie wir Persönlichkeit, Selbstständigkeit und kritische Meinung stärken können. Studium bedeutet eben nicht nur, Klausuren zu bestehen und den Abschluss zu machen.

Warum fühlen sich Studierende heute zunehmend unter Druck?

Das muss man differenziert betrachten. Zum einen müssen viele Studierende neben dem Studium arbeiten, was den Druck erhöht. Hinzu kommt, dass die stark gestiegene Zahl von Studierenden auch eine größere Heterogenität bedingt, die Studierenden bringen zunehmend nicht mehr die gleichen Voraussetzungen mit. Darauf müssen sich die Hochschulen einstellen. Die Belastungen sind zudem in den einzelnen Studienfächern sehr unterschiedlich. Hinzu kommt, dass die sogenannte Generation Y, eine Generation von Pragmatikern und Egotaktikern, heute ihre eigenen Interessen stärker im Vordergrund sieht, und zum Teil dann auch weniger Zeit fürs Studium aufbringt. Das verengt den Rahmen. Hinzu kommt der Hang zur Selbstoptimierung. So steigt zumindest der gefühlte Leistungsdruck. Die Beratungsstellen berichten von einer Zunahme an Krisen und Depressionen. Auch wenn das nicht die breite Masse betrifft, sollte man das ernst nehmen.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

ZUR PERSON: Wilfried Schubarth (62) ist Professor für Erziehungs- und Sozialisationstheorie am Bereich Bildungswissenschaften der Universität Potsdam. Er lehrt und forscht zu Gewalt und Rechtsextremismus sowie zur Qualität der Lehrer- und Hochschulbildung. Eine Empfehlung seiner neuen Studie „Lehrerhandeln bei Gewalt und Mobbing“ zusammen mit dem Cottbuser Psychologe Ludwig Bilz ist die Kooperation: Wenn Lehrkräfte Gewalt und Mobbing zwischen Schülern nachhaltig beenden wollen, dann sollten sie statt zu autoritären Mitteln besser zu kooperativen Ansätzen greifen. Maßnahmen mit der gesamten Klasse und dem Kollegium seien auf die Dauer wirksamer als autoritäre Reaktionen und Hilfsangebote nur für Einzelne. Rund 30 Prozent der Schüler berichteten bei Gewalt und Mobbing nach wie vor von autoritären Reaktionen der Lehrkräfte. Für die Untersuchung waren über 2000 Schüler und 550 Lehrkräfte in Sachsen befragt worden.

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