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Die Frage, was tolerierbar und was eben nicht (mehr) tolerierbar ist, wird auch an den Hochschulen lebhaft diskutiert.

© picture alliance / dpa

Position vom Präsidenten der Universität Potsdam: „Im Zweifel für die Toleranz“

Die Debatte um Toleranz gegenüber Andersdenkenden wird auch an den Hochschulen wieder intensiver geführt. Eine von Vernunft gesteuerte Einordnung in den Stand der Forschung ist dabei entscheidend.

„Toleranz kann allerdings nicht unterschiedslos und gleich sein hinsichtlich der Inhalte des Ausdrucks in Wort und Tat; sie kann nicht falsche Worte und unrechte Taten schützen, die demonstrierbar den Möglichkeiten der Befreiung widersprechen und entgegenwirken.“

Dieses Zitat könnte durchaus jüngeren Datums sein, ist es aber nicht. Es stammt von Herbert Marcuse, aus seinem 1965 erschienenen Essay „Repressive Toleranz“. Ausgehend von einer grundsätzlichen Wertschätzung von Toleranz als Vorbedingung für eine humane Gesellschaft grenzt er die Anwendbarkeit des Konstrukts gleich wieder ein.

[Der Autor ist Präsident der Universität Potsdam. Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung der diesjährigen Neujahrsrede, die Oliver Günther zum Neujahrsempfang der Universität am 26. Januar 2022 halten wird]

Denn eine „reine“ Toleranz im Sinne eines gleichberechtigten Nebeneinanders unterschiedlicher Meinungen könne leicht zu Missbrauch führen, insbesondere zu einer Zementierung bestehender repressiver gesellschaftlicher Strukturen.


Die Empirie der letzten 57 Jahre hat Marcuse in vielen Punkten widerlegt. Repressive Strukturen scheinen eher mit einem Mangel an Toleranz einherzugehen als mit einem Zuviel davon. 

Toleranz kann nicht grenzenlos sein

Aber die Frage, was tolerierbar und was eben nicht (mehr) tolerierbar ist, bewegt uns auch heute, vielleicht mehr denn je. Auch auf akademischen Campi weltweit wird über Toleranz gegenüber Andersdenkenden wieder intensiver diskutiert. Einerseits ist solche Toleranz nach wie vor zwingende Vorbedingung für eine freie Gesellschaft im Allgemeinen und den wissenschaftlichen Diskurs im Besonderen. Andererseits kann die Toleranz nicht grenzenlos sein.

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Passend zu der von der Aufklärung geprägten Historie der Stadt gilt an der Universität Potsdam der Grundsatz „Im Zweifel für die Toleranz“. Dass sich diese nicht auf persönliche Beleidigungen und verfassungsfeindliche Äußerungen erstrecken darf, ist weitgehender gesellschaftlicher Konsens. Gleichwohl gibt es zahlreiche Grauzonen, was sich an einigen Beispielen illustrieren lässt. 

Toleranz gegenüber anders Denkenden

Erstens die Frage, ob Rechts- oder Linkspopulisten Aufenthalts- oder gar Rederecht auf dem Campus haben. Ich würde sagen: Selbstverständlich ja, solange sich diese nicht verfassungsfeindlich äußern und auch nicht als „erwiesene Extremisten“ eingestuft wurden, wie der Verfassungsschutz es formuliert. Dass diese Toleranz gegenüber anders Denkenden weh tut, liegt in der Natur der Sache, ist aber eine unvermeidliche Konsequenz der gerade auf unseren akademischen Campi gebotenen Offenheit. 

Nicht in einer „Cancel Culture“ münden

Zweitens wird immer wieder diskutiert, ob wir unsere Studierenden vor potenziell traumatisierenden Lehrinhalten warnen oder gar schützen sollten. Schutz kann in einem freien akademischen System nicht in einer „Cancel Culture“ münden, in der man bestimmte Inhalte unzugänglich macht.

Oliver Günther ist Präsident der Universität Potsdam.
Oliver Günther ist Präsident der Universität Potsdam.

© PNN / Ottmar Winter

Eine Kontextualisierung der möglicherweise belastenden Passagen ist hingegen geradezu eine Kernaufgabe der modernen Universität im Sinne der Aufklärung - die viele unserer Lehrenden auch ganz selbstverständlich vornehmen. Dies sollte übrigens auch schon für unsere Schulen gelten.

Die Frage, wie frei die Forschung ist

Drittens die Frage, zu welchen Themen überhaupt noch geforscht werden soll beziehungsweise darf. „Forschung und Lehre sind frei“ sagt das Grundgesetz. Warum also überhaupt diese Frage? Nun, wie eine neue Allensbacher Studie zeigt, ist die Frage durchaus berechtigt. Denn während fast alle befragten Hochschullehrenden einräumen, dass man beispielsweise als Westdeutscher über die DDR forschen darf - oder als Atheist über die katholische Kirche - wurde es bei brisanteren Inhalten schon enger. Den Klimawandel auf dem Campus zu bestreiten, würde schon die Hälfte der Befragten gerne verbieten. Und beim Klonen von Embryonen sagen vier von fünf Befragten nein. 

Kontextualisierung ist wichtig

Viertens und letztens die diffizile Frage, wie mit wissenschaftlich fragwürdigen Äußerungen und deren Protagonisten umzugehen ist. Auch hier stellt sich die Frage der Kontextualisierung. Ich hätte nichts dagegen, wenn in eines unserer Seminare ein Vertreter der „Flat Earth Society“ eingeladen würde, solange dessen Meinungen als Beispiel für wissenschaftlich eindeutig widerlegten Unsinn dienen würden. 

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Auch Minderheitsmeinungen in laufenden gesellschaftlichen Debatten wie zum Klimawandel oder zur Coronakrise haben selbstverständlich ihren Platz an unserer Hochschule. Als Universität ist es aber unsere Pflicht, klar zu kommunizieren, welche Meinung die Wissenschaft mehrheitlich vertritt, wie groß die jeweiligen Mehrheiten sind, und welche Standpunkte von der Wissenschaft mehrheitlich eben nicht gedeckt werden. 

Toleranz als Essenz akademischen Lebens

Toleranz ist die Essenz jeglichen akademischen Lebens. Diese Toleranz gilt - ganz nach Voltaire - insbesondere für Vertreter von Minderheitsmeinungen, auch in politisch sensiblen Bereichen wie Corona und der Klimakrise. Entscheidend ist gerade in solchen Kontexten freilich die nicht von Leidenschaft, sondern von Vernunft gesteuerte Einordnung in den Stand der Forschung. 

Unsere Pflicht als Wissenschaftler ist es, aufgrund der besten verfügbaren Informationen Aussagen über wichtige gesellschaftliche Fragen zu wagen. Wissenschaftlich derart validierte Erkenntnisse müssen es sein, welche die Grundlage für jede Politik zum Wohle der Menschheit bilden.

Oliver Günther

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