zum Hauptinhalt

PNN-Serie: Studium anno 1958: Prüderie und Moralapostel

Wie ein harmloses Briefchen eine Mitstudentin und ihre Mitbewohnerinnen empörte. Von Josef Drabek

Josef Drabek, 1939 in Böhmen geboren, studierte von 1958 bis 1962 an der Pädagogischen Hochschule Potsdam, dem Vorläufer der heutigen Potsdamer Universität. Derzeit schreibt Drabek seine Erinnerungen „Von Böhmen nach Brandenburg. Wege zwischen Weltkrieg und Wende“, deren erster und zweiter Teil vorliegt. Der dritte Teil zu Brandenburg beginnt mit der Studienzeit. Auszüge daraus erscheinen in den PNN.

Während unsere Streiche im Studentenheim – etwa die Mopedfahrt auf dem Etagenflur – ohne nennenswerte Folgen blieben, bescherte ein anderer erhebliche Probleme. Ziel war die zur Seminargruppe gehörende Hannelore, eine schwarzhaarige Schönheit mit blauen Augen und rötlichen Wangen, die knallrot wurden, wenn ein „Junge“ sie ansprach. Dieser Verklemmtheit wollten wir abhelfen und schickten ihr deshalb ein Briefchen ins „Mädchenheim“. Der ohne Absender und in Druckbuchstaben geschriebene Text bestand aus lyrischen Zeilen Goethes in der Art: „Und wie ich Mund und Aug’ und Stirne küßte, so war ich doch in wunderbarer Lage“ und Heines: „Unsäglich entzückend ist die Cäsur, die streng den Busen teilet“. Komplettiert wurden die erotischen Ergüsse durch das blaugepauste „Bildnis der Tänzerin Marietta di Rigardo“ des impressionistischen Malers Max Slevogt. Um die im Unterschied zum Original angedeutete Nacktheit zu kaschieren, hatte ich auf Anraten der anderen Schreiber entsprechende Stellen mit Wasserwellen übermalt.

In völliger Verkennung unserer Absicht, der literarischen Ansage und künstlerischen Vorlage waren die Empfängerin des „Kunstwerks“ und ihre Mitbewohnerinnen in höchstem Grade empört. Das war zeitbedingt verständlich, denn auch im Osten gab es noch eine gewisse kleinbürgerliche Prüderie, die sich selbst unter der studentischen Jugend zeigte. So waren die Studentenheime strikt nach Geschlechtern getrennt, gegenseitige Besuche zwar möglich, aber zur Nacht ausgeschlossen. Darauf achteten Hausmeister bzw. Pförtner, die einen ertappten Übernachter rigoros des Heimes verwiesen. Und beim Ferienaufenthalt der Gruppe an der Ostsee haben wir bereits existierende FKK-Strände zwar besucht – allerdings auch hier nach Geschlechtern getrennt.

Daher war es nicht verwunderlich, dass angesichts des Briefes frei nach Schiller „Weiber zu Hyänen“ wurden und sich auf die Suche nach den Urhebern des Scherzes begaben. Zuerst verdächtigte man andere Kommilitonen, bis der Verdacht auf unsere Clique fiel, die zunächst natürlich leugnete. Nachdem Schriftproben eingeholt werden sollten, was höchstwahrscheinlich niemals geschehen wäre, und eine große Versammlung der Seminar- bzw. FDJ-Gruppe einberufen wurde, gaben wir die Tat zu: „Man reißt und schleppt sie vor den Richter, die Szene wird zum Tribunal, und es gestehn die Bösewichter, getroffen von der Rache Strahl!“

Als die geladenen Vertreter des Lehrkörpers den Brieftext lasen, merkte man ihnen an, dass sie ob seiner Harmlosigkeit innerlich schmunzelten. Einer vermerkte ironisch, er habe geglaubt, dass dem Kuvert eine antike Seidenschnur beiliege, mit dem sich die Empfängerin vor Scham hätte erdrosseln müssen. Aber die „Hyänen“ waren nicht zu bremsen, und mit der „Kampfreserve der Partei“ wollten sich die Hochschullehrer nicht anlegen. Also setzten die klassenbewussten Hüterinnen sozialistischer Ethik und Moral einen Beschluss gegen uns „Bösewichter“ durch. Weil wir „an Kommilitoninnen Briefe (anonym) mit schmutzigen Inhalt geschrieben" (man beachte die unzutreffenden Plurale und den falschen Kasus), den Verdacht auf anderen sitzen gelassen und „hartnäckig“ geleugnet haben, wurde eine damals übliche „Erziehungsmaßnahme“ beschlossen. Als festgemachte Hauptakteure erhielten „Most“, dem überdies das Leistungsstipendium aberkannt werden sollte, und ich eine Rüge, „Saran“ und „Richard“ als Mitbeteiligte einen Verweis. Den vier Jugendfreundinnen um die Briefempfängerin wurde ein Tadel ausgesprochen, „weil sie unüberlegt und unberechtigt einen Verdacht vor der Gruppe aussprachen“.

Zunächst zeigten wir uns ziemlich zerknirscht, bald hat sich jedoch manches relativiert und reguliert. Am Schluss waren alle zufrieden: „Most“, weil sein Leistungsstipendium nicht gestrichen wurde, da niemand den Beschluss gemeldet hat, „Saran“, dass er als Mitverfasser „nur“ einen Verweis bekam, ebenso wie „Richard“, der als zuerst Geständiger ebenfalls mit der geringeren Strafe bedacht wurde. Und „Lubbe“, der das Briefchen kannte und trotzdem geschwiegen hat, konnte froh sein, dass er ungeschoren blieb. Außerdem zeigten sich alle „Jungs“ mit uns solidarisch und die anderen „Mädels“ zumindest neutral.

So stand der Fortsetzung unseres Studiums und des unbeschwerten Studentenlebens nichts mehr im Wege, obwohl die Strafen nicht wie vorgeschrieben nach einem Jahr gelöscht wurden. Aber darum hat sich von den selbsternannten Moralhüterinnen niemand gekümmert.

Zur Startseite