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PNN-Interview: Forscher und das Übersinnliche: „Es bleibt ein Rest an Unerklärbarkeit“

Am Potsdamer Einstein Forum befassen sich in dieser Woche Wissenschaftler aus aller Welt mit dem sechsten Sinn - dem Auge für das Unerklärbare.

Sufis, Schamanen und Wahrsager – Sie befassen sich auf einer internationalen Tagung mit dem sechsten Sinn. Wo sitzt der denn, Herr Kroß?

Er begegnet uns überall, aber uns geht es nicht in erster Linie darum, diesen Sinn zu entlarven oder physiologisch zu verorten. Wir wollen vielmehr erkunden, was Wissenschaftler der unterschiedlichsten Fachrichtungen am sogenannten sechsten Sinn interessiert und was sie darüber zu sagen haben. Unser Ausgangspunkt war die Vielfalt der Umgangsweisen mit dem sechsten Sinn angesichts der weltweiten Verbreitung und Virulenz des Phänomens: Jeder weiß sofort, was gemeint ist. Wenn man aber danach fragt, was das genau sein soll, weiß das niemand. Deshalb sprechen wir vorsichtigerweise auch von den „sechsten Sinnen“, also in der Mehrzahl. Wir wollen uns mit Hilfe von Anthropologen und Kulturwissenschaftlern, aber auch der Hirnforschung oder der Zoologie dem Phänomen nähern.

Die Aufklärung hat dem Aberglauben doch eigentlich ein Ende bereitet

aber zugleich bleibt die Bereitschaft an ein Jenseits der fünf Sinne zu glauben sehr hoch. Gerade auch nach der Aufklärung gab es diese Bereitschaft immer wieder. Und der Glaube an den bösen Blick ist weltweit verbreitet. Oder beispielsweise, dass viele das Foto der Kinder oder des Partners im Portmonee tragen – ich weiß nicht, was man sich davon rationalerweise versprechen sollte. Doch viele Menschen verbinden damit etwas Besonderes – es ist eine Art Fetisch.

Der berühmte Glückscent also?

Ja. Oder das Hufeisen oder die Äußerung, man habe gerade an jemanden gedacht, als er sich gemeldet hat. Oder, dass ein Unglück selten allein kommt; man glaubt an Pechtage, wieder andere schwören auf ihren Talisman. Die Aufzählung ließe sich beliebig verlängern. Wir fragen mit unserer Tagung nach der Faszination, die von diesem Glauben ausgeht und ihren möglichen Ursachen.

Die Wissenschaft entzaubert nach und nach viele Rätsel unserer Welt. Was früher noch unerklärlicher Spuk war, ist heute beispielsweise Elektrizität oder Technologie.

Das stimmt. Wir beobachten mit großem Interesse die Bemühungen der Wissenschaft, die Welt zu entzaubern – und stellen dabei doch immer wieder fest, dass sie schnell an Grenzen stößt und neue Rätsel aufgibt. Wie lässt sich beispielsweise das berühmte Bauchgefühl wissenschaftlich erklären? In Bruchteilen von Sekunden entscheiden wir, ob uns jemand sympathisch ist oder nicht. Dabei kann uns kein analytisches Denken helfen, das Phänomen ist dafür viel zu komplex. Feststeht, dass Intuition für unseren Alltag und unser Überleben von entscheidender Bedeutung ist. Der Begriff bezeichnet also jenen Rest an Unerklärbarkeit. Sie finden solche „Reste“ auch an durchaus unerwarteten Stellen.

Zum Beispiel?

Etwa bei dem von Hanna Ahrendt beschriebenen „Political Sense“: Was heißt es, politisch „reif“ zu sein oder politisch „klug“ zu handeln? Was meint man, wenn man FDP-Chef Christian Lindner ein „politisches Talent“ nennt? Dasselbe gilt auch für den „Common Sense“ im Allgemeinen – jeder hat eine Idee davon, was „gesunder Menschenverstand“ ist, aber niemand wird genau erklären können, worin er besteht.

Aus einer riesigen Menge an Erinnerungen, Wissen und Vorstellungen zum Beispiel, die unser Gehirn blitzschnell auszuwerten vermag.

Gewiss. Aber wie lässt sich das wissenschaftlich rekonstruieren? Ließe sich jemals etwa ein Rechner bauen, der dieses menschliche Vermögen nachzubilden, geschweige denn zu übernehmen vermag? Wohl nicht. Ein Rechner ist ein geschlossenes System, beruhend auf Algorithmen und daher nur begrenzt lernfähig. Entscheidungsprozesse lassen sich mit der entsprechenden Rechenkapazität simulieren. Aber am Ende bleibt im menschlichen Handeln immer doch ein Rest: Plötzlich entscheidet man sich anders als geplant, folgt einem unerklärlichen Impuls, entscheidet aus dem Bauch, gerät in Ekstase oder Rausch, wird blind vor Liebe oder Hass – kurz: Man schmeißt die Ratio über Bord, und dies oft mit gutem Recht.

Die Wissenschaft dringt heute auch in Gebiete vor, in denen es wieder zu Unschärfen kommt. Wenn ich etwa an die unglaublichen Eigenschaften der verschränkten Teilchen denke.

Die mikrophysikalische Theorie der Quantenverschränkung beschreibt tatsächlich Erstaunliches. Der Zustand eines Systems von zwei oder mehr Teilchen lässt sich nicht als Kombination unabhängiger Ein-Teilchen-Zustände beschreiben, sondern nur als ein gemeinsamer Zustand, der unabhängig vom Ort dieser Teilchen ist. Der Quantenphysiker Anton Zeilinger in Wien versucht, einen Computer nach diesem Prinzip zu bauen. Es geht also vor allem um die nicht lokalisierte und damit unentschlüsselbare Datenübermittlung – weshalb sich das Militär sehr dafür interessiert. Die Theorie erfreut sich naheliegenderweise auch bei Parapsychologen größerer Beliebtheit. Hier wird das Prinzip auf den Menschen übertragen: mit der quantenmechanisch inspirierten Idee der Verschränkung von neuronalen Zuständen im Gehirn verschiedener Menschen ließe sich dann das Phänomen der Gedankenübertragung oder Telepathie erklären. Aber das ist sehr gewagt und gewiss nicht in naher Zukunft zu verifizieren.

Hier kommt man schnell in den Bereich der Pseudowissenschaften.

Sicher. Aber auch seriöse Wissenschaften gelangen zunehmend zu dem Punkt, an dem sie komplexe Phänomene nicht mehr reduktionistisch erklären können, sondern sie eingebettet in Netzwerken betrachten, also in verschränkten Zuständen. Man spricht inzwischen von einem „Eigensinn der Dinge“. Wo genau liegt die Grenze von unbelebten Gegenständen zu lebendigen Körpern? Wie entsteht das Bewusstsein, die Idee der Einzigartigkeit meines „Ich“? Das Ganze scheint hier auf immer noch geheimnisvolle Weise mehr als die Summe seiner Teile zu sein – mit reduktionistischen Verfahren ist hier nicht viel zu gewinnen.

Also kein Hokuspokus?

Es gibt Hokuspokus. Aber wir wollen auf keinen Fall in einen naiven Irrationalismus abgleiten. Wir lassen weder Wünschelrutengänger auftreten oder jemanden ein Horoskop erstellen. Es geht uns vielmehr um die Rekonstruktion und Umgangsweisen mit dem Phänomen des sogenannten sechsten Sinns. Daher befassen wir uns durchaus mit Sufismus und Schamanismus. Hier kommen Überzeugungen und Techniken zum Einsatz, die in der Geschichte der Menschheit eine reiche intellektuelle Tradition haben und mit der Religion verknüpft sind. Man denke nur an den ungeheuren intellektuellen und spirituellen Reichtum der Alchemie in den Jahrtausenden ihres Bestehens! Unser neuzeitliches wissenschaftliches Weltbild ist demgegenüber noch sehr jung. In der abendländischen Gesellschaft haben diese Traditionen vor allem in der Kunst überlebt.

Wie das?

Zum Beispiel in der Neuen Sachlichkeit oder im Surrealismus. In der Kunst der Neuen Sachlichkeit ist das „Sachliche" das eigentlich Magische, das sich dem Betrachter offenbart und doch entzieht. Ihre magische Tiefe ist sozusagen in ihrer Oberfläche enthalten; sie zeigt sich, ohne dass wir sie rational beschreiben oder erklären könnten. Aber auch die romantischen Bilder etwa eines Caspar David Friedrichs besitzen eine starke „Aura“. Manches andere lässt sich hingegen auch naturwissenschaftlich erklären. Beispielsweise die Rolle des Magnetfeldes der Erde auf Tiere.

Wie bitte?

Einer unserer Referenten hat herausgefunden, dass Hunde beim Beinheben an Bäumen Verhaltensmustern folgen, die sie nicht voneinander lernen. Er hat entdeckt, dass sie sich nach dem Magnetfeld der Erde richten. Die Wegesicherheit von Zugvögeln dürfte ebenso diesem Geomagnetismus zu verdanken sein.

Warum glaubt der Mensch so gerne an Übernatürliches?

Diese Frage werden zu unserer Tagung sicherlich viele Referenten unterschiedlich beantworten. Ich selbst denke, dass dieser Glaube ganz wesentlich die Funktion hat, die Unfassbarkeit vieler Phänomene und Geschehnisse in unserem Leben, aber auch in der Welt um uns herum zu bannen. Eine vermeintliche Erklärung – gleichgültig ob religiös, mystisch, wissenschaftlich oder mit Hilfe des Common Sense, gibt solchen Ereignissen – ob banal oder schicksalsschwer, ob privat oder politisch – einen Sinn, eine Ordnung, selbst wenn die Erklärung für uns falsch sein oder phantastisch klingen sollte. Die Erzählung muss nur „stimmig“ genug und gegenüber entgegenstehenden Fakten ausreichend immun sein; ob sie „wahr“ ist, spielt eine nachgeordnete Rolle.

Ähnlich wie beim Glauben an Gott?

Das ist ein weites Feld. Im Monotheismus stellen sich ganz andere Fragen als etwa in animistischen Weltbildern, dem Zen-Buddhismus oder in mythologischen Erzählungen wie Hesiods Theogonie. Ein Agnostiker wird wieder etwas anderes für überzeugend halten als ein Atheist oder der Anhänger eines Voodoo-Kultes. Ob das in der Religion zum Ausdruck kommende „metaphysische Bedürfnis“ der Weltdeutung und Verhaltensorientierung langfristig verschwinden wird, möchte ich bezweifeln.

Zur Tagung wird auch eine Gespenstergeschichte mit neurobiologischem Ausklang erzählt. Verraten Sie uns bitte mehr davon.

Dahinter steckt die These, dass bestimmte neuronale Vernetzungen in unserem Gehirn die Grundlage für die Erzeugung eines überschaubaren Repertoires gleichförmiger Erklärungsmuster und Erzählungen bildet, die für unsere Weltdeutung zur Verfügung stehen – über alle kulturellen Unterschiede hinweg.

Sie meinen ein globales Phänomen?

Bestimmte Mythen und Erzählungen, aber auch Märchen und Sagen, ähneln sich in auffälliger Weise in verschiedenen menschlichen Kulturen auf der ganzen Welt. In so gut wie allen gibt es Hexen, Zauberer und Schamanen, die über eine besondere Verbindung zum Übernatürlichen verfügen. Überhaupt, die Aufteilung der Welt in eine diesseitige und eine übernatürliche und damit die Existenz religiöser Vorstellungen in einem weiten Sinne, scheint ein Grundmuster der Weltbetrachtung von Menschen zu sein – vergleichbar der Sprachfähigkeit ist vielleicht die Transzendenz ein Kennzeichen des Menschen. Für den Wissenschaftler liegt dann die Vermutung durchaus nahe, dass es für die Religiosität ein neurophysiologisches Substrat geben müsste, also eine Art Kompetenzzentrum für die Transzendenz.

Woher rührt Ihr Interesse am Übersinnlichen?

Das Einstein Forum hat in den letzten Jahren eine disziplinübergreifende Reihe zu den fünf traditionellen Sinnen veranstaltet. Viele Forscher gehen heute mit guten Gründen davon aus, dass es darüber hinaus noch weitere Sinne, etwa den Orientierungssinn oder die Propriozeption, also die innere Wahrnehmung bzw. die autonomen Steuerungsprozesse im Körper, die unserer Wohlbefinden oder Unbehagen mit uns selbst bestimmen. Aber das, was der „sechste Sinn“ genannt wird, unterscheidet sich in manchem grundsätzlich von den physiologischen Sinnen, vor allem darin, dass man nicht weiß, was genau in der Welt oder in uns er registriert. Daher ist er für manche lediglich sozusagen das Überlaufbecken des Stroms der Wissenschaften, für manche aber der Fühler in eine andere, geheimnisvolle Welt, von der die Schulgelehrsamkeit nichts ahnt.

Wann ist Ihnen das letzte Mal ein Geist über den Weg gelaufen?

Die Geister haben sich seit meiner Kindheit aus meiner Alltagswelt ganz in die Sphären der Kunst und Literatur zurückgezogen; von dort aus üben sie jedoch einen großen Einfluss auf mich und meine Weltsicht aus. Es sind für mich gute Geister. Vor Kurzem habe ich den Film „I am not a Witch“ von Rungano Nyoni gesehen, dessen Ausgang die Aussage seines Titels keineswegs eindeutig beantwortet. Der Film schildert das Leben von Frauen in einem sambischen Dorf, die als anerkannte Hexen in einer Farm leben und arbeiten, aber im lokalen Dorfrat im Gerichtswesen und bei der Beschlussfassung eine ausschlaggebende Rolle spielen. Zugleich werden sie einträglich den herbeigekarrten, voyeuristischen Selfie-Touristen zur Schau gestellt. Der Film erzählt also nicht nur eine surrealistisch inszenierte Geschichte mit viel schwarzem Humor, sondern ist ein in vielerlei Hinsicht geistreicher Beitrag zum Thema unserer Tagung, ohne aber eindeutige Antworten geben zu wollen.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

Termin und Programm: IT-Experten und Magier

Mit dem „sechsten Sinn“ wird die Wahrnehmung von Dingen bezeichnet, die zwar da sind, aber von den menschlichen fünf Sinnen nicht erfasst werden. Mit Übersinnlichem und dem sechsten Sinn befasst sich eine internationale Tagung am Potsdamer Einstein Forum vom 14. bis 16. Dezember (Konzeption: Dominic Bonfiglio und Matthias Kroß). Zum Auftakt am Donnerstag (19 Uhr) spricht Psychologie-Professor Peter Lamont (University of Edinburgh) darüber, warum der Mensch an Phänomene solcher Art glaubt. Lamont ist nicht nur Wissenschaftler, sondern betätigt sich auch als Magier. Im Anschluss spricht Natascha Adamowsky, Professorin für Digitale Medientechnologien (Universität Siegen). Ihr Vortrag trägt den Titel

„How to Survive a Haunted House? Zum Eigensinn des Paranormalen im Psychothriller“. Über das Phänomen der Intuition spricht am Freitag um 11 Uhr der Psychologie-Professor Gerd Gigerenzer (Berlin). Das ganze Programm im Internet unter www.einsteinforum.de.

Zur Person:

Matthias Kroß (64) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Potsdamer Einstein Forum. An der Universität Potsdam ist er Lehrbeauftragter in der Fachrichtung Allgemeine Soziologie.

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