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Belastungsprobe Hausaufgaben. Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom reagieren sensibel auf Normendruck.

© dpa

Leben mit ADHS: Eingeschaltet bleiben

Eine Fortbildung an der Universität Potsdam beschäftigte sich mit dem Leidensdruck von Menschen mit ADHS und der für sie nötigen Hilfe im Alltag

Sie rempelt im morgendlichen Familienchaos gleich mehrmals gegen den Tisch, hetzt dann zur Arbeit und hat, bevor der Tag richtig beginnt, schon mehrmals „Ich kann nicht mehr“ gesagt. Er hingegen verwechselt von früh an den Wochentag, verliert dann bei der PC-Arbeit komplett das Zeitgefühl und hört schließlich von der Kita-Erzieherin zum wiederholten Mal, warum nur er es bloß nicht schaffe, sein Kind halbwegs pünktlich abzuholen.

Den alltäglichen Leidensdruck von Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) verständlich zu machen, um kontraproduktive und traumatisierende Vorwürfe zu vermeiden – das war eines der Hauptanliegen einer zweitägigen Fortbildung, die unter dem Titel „ADHS – Chance und Risiko. Tägliche Herausforderung für Kinder und Erwachsene“ im Audimax der Universität Potsdam stattfand. Die Veranstaltung wurde von der Initiative zur Förderung rechenschwacher Kinder in Berlin und Brandenburg (IFRK-BB e.V.) in Zusammenarbeit mit dem Department Erziehungswissenschaft an der Uni Potsdam organisiert.

Massive Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen sowie hohe Impulsivität werden häufig als die wesentlichen Merkmale von ADS bezeichnet. Bei manchen kommt noch Hyperaktivität dazu, weswegen das Syndrom auch als ADHS bekannt ist. „Den eigenen Gefühlen ausgeliefert sein“, nannte die Psychologin und Verhaltenstherapeutin Cordula Neuhaus aus Esslingen als das möglicherweise entscheidende Hauptsymptom. Denn während die meisten Menschen, auch wenn sie mehr oder weniger zufrieden sind, über den Tag einen gleichmäßigen Wachzustand halten können, ist der Alltag von Menschen mit ADS von stark schwankenden Phasen geprägt: Sind sie subjektiv interessiert, können Betroffene hohe Leistungen bringen und sich auch wesentlich länger als der Durchschnitt konzentrieren. Fehlt aber ein emotionaler Anreiz, können sie Hirnregionen, die für Konzentration und Leistungsfähigkeit zuständig sind, gar nicht erst richtig aktivieren. Sie schalten ab, ihr Gehirn ist auf „Stand-by“ wie Neuhaus sagt. Circa vier Prozent der Bevölkerung haben ADS, in etwa ein Kind pro Schulklasse. Auch Cordula Neuhaus gehört dazu.

Wenn Kinder und Erwachsene abschalten, beginnen im sozialen Umfeld häufig die Probleme. Während ihre besondere Veranlagung, Denken und Fühlen zu verknüpfen, häufig mit hoher Kreativität einhergehe, so Neuhaus, ecken Menschen mit ADS in Kita und Schule, an der Uni und im Beruf häufig an. Sie verlieren das Gefühl für Zeit und Verabredungen, es fällt ihnen schwer, überlegt Entscheidungen zu treffen oder die Perspektive zu wechseln, um die Reaktion anderer auf ihr Verhalten abzuschätzen. „Kurzsichtigkeit für die Zukunft“ und Entscheidungslegasthenie nennt das Neuhaus. Menschen mit ADS haben große Schwierigkeiten, sich selbst zu organisieren oder ihre Finanzen zu regeln. Auch für Beziehungen ist die Stoffwechselstörung im Gehirn eine Belastungsprobe. „Warum kann sich der Schüler so viele Details merken, aber nicht, dass er seine Jacke auf den Haken hängen soll?“, ärgert sich dann zum Beispiel eine Lehrerin. Die Kontaktpersonen fühlen sich selbst angegriffen, obwohl das Verhalten in den meisten Fällen weder mit ihrer Person zu tun hat, noch eine Frage fehlenden Willens ist.

Wer Menschen mit ADS in solchen Situationen mit moralisierenden Appellen oder mit den Worten „müssen“, „sollen“ oder „mir zuliebe“ komme, so Neuhaus, der handele einfach kontraproduktiv. Gerade diese Menschen bräuchten konstant verbale und non-verbale positive Rückmeldung, um sich zu aktivieren und zu lernen. Während andere Menschen Studien zufolge durch Normendruck immerhin 70 Prozent ihrer kognitiven Leistung mobilisieren können, seien es bei Menschen mit ADS 30 Prozent. Im Gegenteil: Auf negative emotionale Botschaften reagieren sie besonders sensibel und sind sehr schnell verletzt. Im schlimmsten Fall hyperfokussieren sie die negative Emotion, die mit einer Drohung oder einem Vorwurf verbunden ist, und beginnen „sich einzuschimpfen“, so Neuhaus.

Weil sie sich emotional aufgeladene Bilder und Informationen überdurchschnittlich stark auf Dauer einprägen, seien viele ADS-Kinder schon im Kita-Alter traumatisiert. Sie entwickeln viel weniger Selbstwertgefühl und nehmen sich kaum als selbstwirksam wahr. Eine negative Spirale beginnt, die sich durch ganze Biografien ziehen kann, wie auch eine Gesprächsrunde mit den Darstellern der Fortbildung zeigte. Nicht zuletzt deshalb ist es ein Ziel, dass Erzieher und Lehrer ADS-Symptome spätestens in der 1. oder 2. Klasse erkennen, damit möglicherweise betroffene Kinder früh professionell untersucht werden und im Fall einer Diagnose professionelle Hilfe und Unterstützung von ihrem sozialen Umfeld bekommen.

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