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Historische Tretminen. Die Grenze Polens war von den Alliierten auf der Potsdamer Konferenz festgelegt worden, es kam faktisch zur Westverschiebung des ganzen Landes. Die sogenannte Deutschland-Doktrin der letzten NS-Regierung wollte hingegen den Grenzen des untergegangenen Deutschen Reiches noch eine Hintertür offenhalten.

© Stefan Sauer/dpa

Konferenz zum Potsdamer Abkommen: Offene Grenzfragen

Ein Konferenz der Deutsch-Polnischen Gesellschaft zum Potsdamer Abkommen fragt derzeit in Potsdam nach der Belastbarkeit der Oder-Neiße-Grenze. Die sogenannte Deutschland-Doktrin der letzten NS-Regierung wollte den Grenzen noch eine Hintertür offen halten - mit Nachwirkungen bis heute.

Potsdam - Mit einer recht heiklen Frage der deutschen Geschichte wird sich eine Konferenz zum „Potsdamer Abkommen“ an den kommenden beiden Tagen in der Landeshauptstadt beschäftigen. Wenn die Historiker und Völkerrechtler aus sechs Ländern nach der rechtlichen Bedeutung und den historischen Auswirkungen des Treffens der alliierten Siegermächte im Sommer 1945 fragen, werden sie ihren Blick auch auf die sogenannte Deutschland-Doktrin werfen. Dabei handelt es sich um eine rechtsförmige Formulierung, die die letzte NS-Regierung unter Karl Dönitz hinterlassen hat und die bis heute noch Auswirkungen hat.

Der Sprachwissenschaftler Professor Christoph Koch, Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, wird in seinem Vortrag „Feuer und Wasser“ (Mittwoch, 9.30 Uhr) auf die zwiespältige Rolle dieser Doktrin eingehen. Die Deutschland-Doktrin wurde im Rahmen der Regierung Dönitz konzipiert und argumentierte, dass die Kapitulation eine rein militärische Angelegenheit war, die die Fortexistenz des Reiches nicht tangiere. „Das Reich lebt demnach fort, wenn auch – umständehalber – nur als Völkerrechtssubjekt“, so Koch.

Rechtskonservative rücken Grenzen in revisionistisches Licht

Im Verlauf der Nachkriegsentwicklung, insbesondere im Zuge des Kalten Krieges und der Ausgestaltung der BRD zum Bollwerk gegen den befürchteten Vormarsch des Kommunismus, habe die Bundesrepublik auf diese Doktrin die These ihrer Identität mit dem fortbestehenden Reich aufgesattelt. Daraus sei die vom Bundesverfassungsgericht 1973 zum geltenden Recht erhobene Folgerung gezogen worden: „dass keine Regierung der BRD etwas unternehmen dürfe, was dem Reich schade oder ihm vorgreife“.

Dieser Umstand ist es auch, der immer wieder Rechtskonservative dazu bringt, die Frage der Grenzen Deutschlands in ein revisionistisches Licht zu rücken. Die Bundestagsfraktion der Linken hatte 2013 gefordert, Abstand von der Deutschland-Doktrin zu nehmen. Es sei befremdlich, dass die Bundesregierung an der Doktrin als Grundlage ihrer Beziehungen zum Nachbarland Polen festhalte und damit revanchistischen Forderungen Vorschub leiste. „Die Deutschland-Doktrin ist keineswegs eine bloße Absichtserklärung einer seit Langem untergegangenen Regierung, sondern die rechtsförmige Formulierung des Selbstverständnisses der unvereinten Bundesrepublik, das ihr politisches Handeln bis in die feinsten Verästelungen hinein bestimmt hat und das sie gegen die Auflagen der Alliierten in die vereinte Bundesrepublik hinübergerettet hat“, so Koch. „Wie alle Tretminen wartet sie seither darauf, dass einer drauftritt.“Nach Recherchen von Koch hatte einen Tag nach dem Ende der Dönitz-Administration der ehemalige Staatssekretär Wilhelm Stuckart in einem Memorandum den ersten Teil der Deutschland-Doktrin, wonach das Deutsche Reich fortexistiere, festgehalten. Der zweite Teil der Doktrin, wonach die BRD mit dem Reich identisch sei, kam erst später zu dem Gedankengebäude hinzu.

Potsdamer Konferenz als letzte Stufe

Der Sprachwissenschaftler, der an der FU Berlin lehrt, sieht die Entwicklung vor dem Hintergrund des Potsdamer Abkommens. Die Potsdamer Konferenz sei die letzte Stufe eines dreistufigen Sanierungsprogramms der Alliierten für das „niedergerungene Dritte Reich“ gewesen. Nach der bedingungslosen Kapitulation und der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Alliierten sei das Potsdamer Abkommen die dritte Stufe gewesen.

Im Potsdamer Abkommen sei die Einigung unter den Alliierten darüber formuliert worden, wie sie diese Staatsgewalt wahrnehmen wollten. Der wichtigste Punkt dabei sei die Einigung über den territorialen Zuschnitt Deutschlands auf die damaligen Besatzungszonen gewesen. „Dagegen hat es in Deutschland neben einsichtigen Stimmen frühen und heftigen Widerspruch gegeben“, so Koch. „Der wurde in dem gebündelt, was später den Namen Deutschland-Doktrin erhielt – einer Morgengabe des Dritten Reiches an die Nachkriegsgeschichte.“

Gültigkeit des Potsdamer Abkommens

Der springende Punkt ist für Koch, dass die deutsche Position eine Rechtsposition war, die die Alliierten im Zuge des Kalten Krieges zuließen, ohne sich jedoch je für ihre Verwirklichung in Anspruch nehmen zu lassen. Noch 1996 hätten Russen, Amerikaner und Briten einhellig den damaligen deutschen Außenminister Klaus Kinkel gerüffelt, als dieser die Gültigkeit des Potsdamer Abkommens in Abrede stellte. „Also noch über die Vereinigung von BRD und DDR hinaus nehmen die Alliierten wahr, was in Deutschland passiert und halten an der Gültigkeit des Potsdamer Abkommens fest“, so Koch .

Der wichtigste Aspekt für Koch: Da Deutschland durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts daran gehindert sei, dem Deutschen Reich vorzugreifen, habe man 1990 die polnische Westgrenze formal nicht korrekt anerkannt: „Stattdessen haben wir sie bestätigt und zugesagt, dass wir sie nicht mit Gewalt verändern werden, aber anerkannt haben wir sie nicht.“ Koch sieht das als unmittelbare und bis heute nachwirkende Folge der Deutschland-Doktrin.Der Vertrag zur polnischen Westgrenze wird inzwischen offiziell als „Grenzbestätigungsvertrag“ und nicht als Anerkennungsvertrag bezeichnet. Kaum jemand wisse, dass es 1990 nur diese Bestätigung, aber keine Anerkennung der polnischen Grenze gab. „Es ist dies, das Erbe einer Ära von Politikern, denen daran gelegen war, sich die Option auf das Reich noch offenzuhalten.“ Daran würde heute zwar niemand mehr in der Regierung denken, auch nicht in den konservativen Parteiflügeln. Dennoch: Die formale Anerkennung der Grenze stehe immer noch aus. Die Deutsch-Polnische Gesellschaft bemüht sich seit Jahren darum, die formal eindeutige Anerkennung der polnischen Westgrenze zu erreichen.

Aus Fesseln der Deutschland-Doktrin lösen

Koch betont, dass es ihm nicht um Verschwörungstheorien gehe. Niemand in der Bundesregierung rüttele aktuell an der polnischen Westgrenze. Koch hofft, dass das Problem durch die mittlerweile eingetretenen politischen Entwicklungen allmählich „überwölbt“ werde, wie er sagt. Die Tagung in Potsdam setzt sich das Ziel, eine von ideologischen Vorbehalten freie Einschätzung von Charakter und Auswirkung der Potsdamer Konferenz von 1945 zu geben. Es gehe darum, die historischen Gegebenheiten und ihren juristischen Charakter dieser Begebenheit so sachlich und objektiv wie möglich zu erhellen. In der internationalen Rechts- und Geschichtswissenschaft spielen die deutschen Vorbehalte gegen das Potsdamer Abkommen keine relevante Rolle. Koch würde sich wünschen, dass sich auch die Bundesrepublik aus den selbst gestrickten Fesseln der Deutschland-Doktrin zu lösen vermöge.

Eine Petition der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland an den Bundestag, diese Doktrin für obsolet und von keiner Bedeutung für die deutsche Außenpolitik zu erklären, sei auf Grundlage eines Gutachtens des Auswärtigen Amtes abgelehnt worden. Das Gutachten habe das Festhalten an der These des Fortbestands des Deutschen Reiches vielmehr bekräftigt. Der aktuellen Politik wirft Koch Doppelzüngigkeit vor: Einerseits wolle man auf die Deutschland-Doktrin nicht verzichten, andererseits aber ein einvernehmliches Verhältnis zu Polen haben. Bleibt abzuwarten, was der Vertreter des Auswärtigen Amtes, der zur Eröffnung der Tagung angefragt ist, zu dem Sachverhalt zu sagen hat. Bis kurz vor Beginn der Konferenz gab es noch keine Zusage für einen Vortrag.

„Das Potsdamer Abkommen: rechtliche Bedeutung und historische Auswirkungen“: 1. bis 4. September 2015, Potsdam Museum, Am Alten Markt 9.Die Tagung wird von der Stadt Potsdam gemeinsam mit der Berlin-Brandenburgischen Auslandsgesellschaft und der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland veranstaltet. Beteiligt sind außerdem mehrere Opferverbände

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