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Konferenz an der Universität Potsdam: Das Jahrhundert des Gemetzels

Was veranlasste und ermöglichte Völkermorde, wie es sie in diesem Umfang zuvor kaum gegeben hatte? Eine internationale Konferenz an der Universität Potsdam hat die Gewalt des 20. Jahrhunderts auf Gesetzmäßigkeiten untersucht.

Potsdam - Der Erste Weltkrieg war eine Zäsur. „Das Kriegsgeschehen radikalisierte sich“, sagt Rolf Hosfeld, der Leiter des Lepsiushauses in Potsdam. Noch im 19. Jahrhundert sei versucht worden, den Terror gegen die Zivilbevölkerung einzudämmen. Hilfswerke wie der Vorläufer des Roten Kreuzes waren gegründet worden. Regierungen bemühten sich, das Kriegsgeschehen auf die Schlachtfelder zu begrenzen. Im 20. Jahrhundert aber richtete sich das Kriegsgeschehen auch gezielt gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere im südöstlichen Europa.

Staatliche Gewalt gegen die eigene Bevölkerung

Die türkischen Herrscher planten und vollzogen den Genozid am armenischen Teil ihrer Bevölkerung. Damit lieferten sie eine Blaupause für weiteren Genozid und Terror. „Aber es gibt keine direkte Linie vom Genozid an den Armeniern zum Holocaust“, sagt Hosfeld. „Die Geschichte bietet immer vielfältige Möglichkeiten.“ Auch andere Staaten richteten staatlich organisierte Gewalt gegen die eigene Bevölkerung. Bis zu 60 000 Zivilisten wurden in Galizien und Bosnien bei Strafaktionen der österreichisch-ungarischen Armee ermordet. Bei Massenhinrichtungen starben zahlreiche Serben, die mit dem Kriegsgeschehen nichts zu tun hatten: Frauen, Kinder, alte Männer. Wie kam es zu diesem Bruch und Abbruch der Zivilisation am Beginn des 20. Jahrhunderts? Was veranlasste und ermöglichte Völkermorde, wie es sie in diesem Umfang zuvor kaum gegeben hatte? Das war die Fragestellung bei einer internationalen Konferenz an der Universität Potsdam zusammen mit dem Lepsiushaus. „Wir werfen hier einen internationalen Blick auf diese Problematik und schauen uns nicht nur die einzelnen Staaten an“, erklärte der Historiker Sönke Neitzel, der die Konferenz mitorganisiert hat.

Ob es eine transnationale Verbindung gibt, ein übergreifendes Konzept aus den Handlungen der einzelnen Regierungen gegen Bevölkerungsgruppen sichtbar wird, das wollten die Wissenschaftler herausfinden. Während die Forschung in Großbritannien ohnehin schon seit Langem einen Forschungsschwerpunkt bei den Verwerfungen des Ersten Weltkrieges gelegt hat, gab es bisher noch kaum Konferenzen, die aus internationaler Perspektive gerade die Verbrechen in Südosteuropa während des Ersten Weltkrieges thematisiert haben.

Forschungsschwerpunkt: Völkermord an den Armeniern

Rolf Hosfeld hat im vergangenen Jahr in seiner Publikation „Tod in der Wüste“ neue Forschungsergebnisse ausgewertet und eine umfassende Darstellung vorgelegt. Ein Forschungsschwerpunkt des Lepsiushauses liegt bei der Aufarbeitung und Sichtung des Völkermordes an den Armeniern, wie er von dem Namensgeber und ehemaligen Eigentümer des Hauses, Johannes Lepsius, dokumentiert und dargestellt wurde. Nach einer „verbindenden Grammatik der Gewalt“, die sich nachweisen lässt in Handlungen von Serben, Deutschen, Türken, Russen und möglicherweise noch anderer Völker, sucht Neitzel. Oder war es ein ganz speziell türkischer Weg, der zu dem Massaker an den Armenier und anderen Gemetzeln führte?

Insbesondere das Massaker an der armenischen Bevölkerung in den Jahren 1915/1916 im Gebiet Der Zor untersucht der Historiker Hilmar Kaiser. Der Zor war von der ottomanischen Regierung als Siedlungsgebiet für die Armenier auserkoren worden, die vorhergegangene Massaker und Todesmärsche überlebt hatten. Zunächst gelang es dem Gouverneur des Bezirks, Ali Suad Bey, auch zusammen mit Hilfsorganisationen den deportierten Armeniern beizustehen. Zwar starben in dem restlos überforderten Bezirk dennoch Tausende an Unterernährung und Krankheiten, aber es fand zunächst kein gezielter Völkermord statt.

Vorbereitungen hinterließen eine breite Spur von behördlichen Papieren

Die Hilfsaktion war allerdings nicht zuletzt der Anlass für die ottomanische Regierung, mit Zeki Bey einen neuen Gouverneur einzusetzen, der dann rücksichtslos gegen die Überlebenden vorging. Weil die Verwaltung des Bezirkes nicht auf Massenmorde von etlichen Zehntausend Menschen ausgelegt war, kam es zu einer Zusammenarbeit zwischen regierungsamtlichen Truppen, unter der unmittelbaren Oberaufsicht des Innenministers Talaat Bey, und der lokalen Verwaltung. „So hinterließ die Vorbereitung der Grausamkeiten eine breite Spur von behördlichen Papieren“, erklärte Hilmar Kaiser in seinen Untersuchungen der Umstände des Massakers. Auch in anderen Staaten kam es in diesem Zeitraum zu groß angelegten Mordaktionen an Zivilpersonen.

Der Wissenschaftler Konrad Zielinski weist auf Pogrome in Polen in den Jahren 1918 bis 1920 hin. Polen war infolge der Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg ein souveräner Staat geworden. Damit wurde es auch zum Fluchtpunkt für zahlreiche Juden, die vor der russischen Revolution flohen. Allerdings unterstellte die polnische Regierung den Juden eine Kollaboration mit den Bolschewisten in Russland. Dies habe zu Pogromen an den ortsansässigen oder neu dort hingezogenen Juden geführt, schreibt Zielinski.

Ob sich aus diesen Gewaltaktionen in einzelnen Staaten eine übergreifende „Grammatik der Gewalt“ ableiten lässt, fragte auch der US-Historiker Ronald G. Suny. Das 20. Jahrhundert, so seine Antwort, sei ein gewaltvolles Jahrhundert gewesen, in dem ein internationaler Bürgerkrieg gegen die eigene Bevölkerung des jeweiligen Landes geführt worden sei. Mit der Idee der Reinheit nationaler Ethnien sei es zu einer Kannibalisierung innerhalb der Nationen gekommen, die mit dem Ersten Weltkrieg noch lange nicht geendet hätte. Das sollte auch ein Plädoyer gegen das Aufkommen aktueller, nationaler Strömungen sein, die heute vom Wiedererstarken des Nationalstaates schwärmen. 

Richard Rabensaat

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