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Fremde Welt. Julia Jentsch spielt in der vierteiligen ARD-Serie „Das Verschwinden“ (Folgen am 29. 30. und 31.10, jeweils 21 Uhr 45, der erste Teil in der ARD-Mediathek) eine alleinerziehende Mutter, die in der bayerischen Provinz ihre verschwundene Tochter sucht. Die in Berlin aufgewachsene Wahlschweizerin, 39, erhielt 2005 für „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ den Silbernen Bären. Es folgten Hauptrollen in „Effi Briest“ oder „24 Wochen“.

© ARD Degeto/BR/WDR/NDR/23/5 Filmp

Julia Jentsch im Interview: „Wer belügt den anderen mehr?“

Der Star in der ARD-Miniserie "Das Verschwinden": Julia Jentsch über den Streit zwischen den Generationen, Mütterthemen und Diskotheken in der Provinz.

Frau Jentsch, „Das Verschwinden“ ist definitiv eine grandiose deutsche Serie, aber wissen Sie, was ich beim Zuschauen als Erstes wissen wollte?

Sagen Sie’s mir.

Wo gibt es noch solche großen Dorf-Diskotheken wie das „Revolution“, das eine wichtige Rolle in der Mini-Serie einnimmt? Ich dachte, diese Art Glitzer-Diskos seien ausgestorben, ähnlich wie Videotheken.
Die gibt es offenbar in Bayern, in der Gegend von Bayreuth. Die Zeiten, in denen ich Diskos aufgesucht habe, sind ja auch eher vorbei. Die Diskothek, in der wir gedreht haben, ist nach wir vor eine dieser Dorf-Diskotheken, die Sie ansprechen. Es ist ein spannendes Filmset, das das Team da in der Nähe der tschechischen Grenze gefunden hat. Dadurch bekommt die Geschichte so etwas Zeitloses.

Gruselig oder besser frappant ist die Eigendynamik, mit der in „Das Verschwinden“ alles auf die Familienkatastrophe zusteuert.
Mit erschien das sehr glaubwürdig, dass es solche Konflikte zwischen den Generationen gibt. Das ist ein zeitloses, nicht ortsgebundenes Phänomen. Ich habe auch an meine eigenen Erlebnisse in dem Alter gedacht. Da gab es das auch alles, die Kinder, die mit dem Zuhause nichts mehr anfangen konnten. Die Familien, wo man weiß, es wird jetzt auseinander- brechen. Das Thema Lebenslüge ist ein zeitloses.

Was läuft da schief in den Familien?
Schwer zu sagen. In „Das Verschwinden“ haben viele in dem Dorf gedacht, sie können so leben und auch weiterleben, wenn man bestimmte Dinge ausklammert oder mal eine Lügengeschichte auftischt. Irgendwann kommt der Punkt, wo das Gebilde zusammenbricht.

Was man sich beim Zuschauen die ganze Zeit fragt: Wie soll man als Eltern umgehen mit dieser wütenden Generation? Mit Verständnis, noch mehr Vertrauen oder Strafen wie Stubenarrest oder Festketten?
Ich würde nie für Strafe plädieren. Gerade bei dieser Manu, die ihre Eltern wiederholt ins Gesicht lügt, versteht man doch auch ihre heftige Reaktion, weil sie spürt: Meine Eltern spielen mir etwas vor. Die Frage ist: Wer spielt hier am meisten falsch oder belügt den anderen mehr?

Michelle Grabowski sagt, sie sei keine gute Mutter. Es sei ihre Spezialität, aus Fehlern nicht zu lernen. Sie muss sich Vorwürfe anhören, 20 Jahre nicht da gewesen zu sein, für ihre Tochter Janine. Mir kommt diese Alleinerziehende sehr stark vor, fast wie Commander Ripley alias Sigourney Weaver in der „Alien“-Saga. Sie verliert Tochter um Tochter, bleibt kämpfend, verzweifelt, suchend, weiter kämpfend. Sie wirkt stärker als die Männer um sie herum.
Interessant, dass Sie das sagen mit der Ripley. Da ist vielleicht was dran, so habe ich das noch nicht gesehen. Ich denke, Michelle hat vieles gut und richtig gemacht, als Mutter, nur eben auch ein paar große und entscheidende Fehler. Aber sie durchläuft in der Serie ja auch einen Prozess, erkennt, was sie ihren Töchtern gegenüber im Verhalten zu ändern hat.

Wie sind Sie Ihre Figur angegangen? Wie nahe ist Ihnen diese alleinerziehende Altenpflegerin, die ihrer Tochter über Jahrzehnte den Vater verschweigt?
Nicht sehr nahe. Sie ist spannend, aber mehr, weil es für mich eine fremde Welt ist. Ich wollte wissen, wie lebt die wohl, wie meistert die ihr Leben? Das hat mich neugierig gemacht. Ich kenne natürlich alleinerziehende Frauen in meinem Umfeld. Die haben meine Bewunderung. Ich wollte keine unglückliche, gescheiterte Frau zeigen.

Nicht nur wegen dieser kaputten Familiengeschichten ist das eine sehr ungewöhnliche Produktion. Dazu kommt die lange Drehzeit von August bis Dezember 2016. War das Ihre schwierigste Arbeit?
Es hat sicherlich eine Sonderposition. Es war für mich eine große Herausforderung, nicht zu wissen, wie wird es sein, mich über einen so langen Zeitraum mit einer Figur und ihrer heftigen Geschichte zu beschäftigen.

Ich musste an die US-Miniserie „Big Little Lies“ mit Nicole Kidman denken, wo es um vier bürgerliche Frauen geht und deren auf Lügen beruhende Beziehungen.
Über die Serie habe ich schon viel sehr Gutes gehört. Die will ich mir ansehen.

Schauen Sie viele dieser US-Serien?
Ich bin kein Serienjunkie. Ein paar haben mich schon gepackt: „Broadchurch“, „Top Of The Lake“, „Homeland“. Diese Serien haben ganz andere Möglichkeiten, den Figuren nahe zu kommen. Man begleitet sie viel länger, man kann beobachten, über sieben, acht Folgen. Es ist alles nicht so handlungsgetrieben. Da hat sich einiges geändert. Früher habe ich vor Serien eher zurückgeschreckt, mir gedacht: Ich bin so neugierig, ich will Abwechslung, nicht immer das Gleiche spielen.

Eines ist mir aufgefallen in Ihrer Vita: Da gab es viele Mütter- und Erzieher-Rollen. In „24 Wochen“ als Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom, in „Die Auserwählten“ als Lehrerin an der Odenwald-Schule mit Missbrauchsopfern, in „Monsoon Baby“ über eine Leihmutterschaft. Nun „Das Verschwinden“. Zufall?
Für mich fühlt sich das jetzt in meinen Filmen nicht so nach dauernden Mütterthemen an. Das ist wohl auch dem biologischen Alter geschuldet, dass man für bestimmte Rollen interessant wird. Im Frühjahr habe ich den Kinofilm „Frau Muttertier“ abgedreht, eine Komödie.

Einem großen Publikum bekannt wurden Sie 2005 mit der Rolle als Sophie Scholl, für die Sie den Silbernen Bären erhielten. Es ging in Ihrer Karriere stetig voran. Bekommen Sie genug Angebote, gute Bücher?
Ich bin momentan sehr zufrieden. Das waren bis jetzt immer Wellenbewegungen. Es gab Phasen, in denen viel Schönes kam und welche, in denen ich mich einfach in Geduld üben musste.

Sie geben eher selten Interviews, gelten als medienscheu. Ist da was dran?
Es hat sich über die Jahre schon verändert (lacht).

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Julia Jentsch spielt in der vierteiligen ARD-Serie „Das Verschwinden“ (Folgen am 29. 30. und 31.10, jeweils 21 Uhr 45, der erste Teil in der ARD-Mediathek) eine alleinerziehende Mutter, die in der bayerischen Provinz ihre verschwundene Tochter sucht. Die in Berlin aufgewachsene Wahlschweizerin, 39, erhielt 2005 für „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ den Silbernen Bären. Es folgten Hauptrollen in „Effi Briest“ oder „24 Wochen“.

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