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Tödliches Kalkül. Terrorismus – hier der Berliner Breitscheidplatz nach dem Anschlag von 2016 – will Angst verbreiten, damit Staat und Mehrheitsgesellschaft überreagieren. Die Radikalisierung der Betroffenen ist ein komplizierter Prozess, bei dem Ideologie und Verschwörungsdenken eine Rolle spielen.

© Tobias Schwarz/AFP

Interview mit Extremismus-Experte Alexander Ritzmann: „Die Menschen sollen Angst vor ihren Nachbarn bekommen“

Der Potsdamer Extremismus-Experte Alexander Ritzmann über Radikalisierung, Echoräume im Internet, mögliche Interventionen und Ausstiegsszenarien „Man kann niemanden radikalisieren, der das nicht will“.

Herr Ritzmann, warum radikalisieren sich heute so viele Menschen?

Die Frage müsste eigentlich anders herum lauten, nämlich warum sich nicht viel mehr Menschen radikalisieren.

Wieso das?

Ich verfolge die Entwicklungen im Bereich Extremismus seit etwa 20 Jahren. Dabei zeigen sich zwei grundlegende Dispositionen für eine Radikalisierung. Zum einen braucht es eine ausgeprägte Unzufriedenheit und das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, etwa durch die Politik einer Regierung oder in der persönlichen Entwicklung. Hinzu kommt das emotionale Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer engmaschigen Gruppe. Es geht also darum, einen Platz oder eine Rolle zu finden, häufig mit der Sehnsucht nach einer Aufwertung des eigenen Lebens verbunden. Viele gerade junge Menschen suchen etwas, das einem dabei hilft, aus dem eigenen Status quo herauszukommen. Mit hinein spielt dann oft auch noch etwas Abenteuerlust. Das sind notwendige Bedingungen für alle Radikalisierungen, egal ob nach links, rechts oder zum religiösen Extremismus. Diese Bedingungen treffen allerdings auf Millionen Menschen zu. Dass sich am Ende doch nur einige Tausend davon bis zum gewaltbereiten Extremismus bewegen, liegt an weiteren Faktoren, die von größerer Bedeutung sind.

Welche sind das?

Meines Erachtens geht es um die Wechselwirkungen von Verschwörungsdenken, extremistischer Ideologie und Propaganda. Unzufriedenheit, emotionale Bedürfnisse und Krisen sind zwar notwendige Bedingungen, aber noch nicht hinreichend, um sich zu radikalisieren. Sonst hätten wir, wie gesagt, deutlich mehr Extremisten. Beim Thema Verschwörung sollte zudem differenziert werden. Manche Verschwörungstheorien haben sich durchaus bewahrheitet, schließlich hat es immer wieder manipulative und korrupte Machtstrukturen in Politik und Wirtschaft gegeben. Problematisch wird es aber beim Verschwörungsdenken, also der Idee, dass die ganze Welt von einer kleinen Gruppe gesteuert wird. Solches Denken ist häufig antisemitisch geprägt, es geht um eine angebliche Verschwörung jüdischer Interessen gegen die „weiße Rasse“ oder „den Islam“. Bei den extremen Linken ist es etwas komplexer, aber auch hier soll oft das jüdische Großkapital hinter allem stecken, was schlecht ist.

Welche Rolle spielt Ideologie?

Für sehr unzufriedene und sinnsuchende Menschen bietet Verschwörungsdenken scheinbar einfache Antworten für sehr komplexen Fragen. Von da an ist es nur noch ein Schritt zur Ideologie. Diese baut dann aus Unzufriedenheit, dem Wunsch nach Gruppenzugehörigkeit und Aufwertung ein stimmiges Konzept. Die Ideologie grenzt die eigene Gruppe von der Welt der anderen ab. Dabei hat die eigene und gruppenbezogene Opferrolle eine große Bedeutung. Alle Extremisten, ob rechts, links oder islamistisch, behaupten, sie wären Opfer und würden sich nur verteidigen. Das ist ein ganz zentrales Element. Extremistische Ideologien legitimieren durch dieses Opfernarrativ dann auch die Gewalt gegenüber den „anderen“ und versprechen zudem eine Form von Lebens-„Upgrade“. Damit wird das Gefühl vermittelt, der Einzelne könne aus der Beifahrerrolle in den Fahrersitz des Lebens wechseln. Man meint, endlich verstanden zu haben, wer die eigenen Freunde und Feinde sind, wer wirklich hinter den Dingen steckt, wer schuld an der eigenen Unzufriedenheit mit dem Leben ist. Dieses Hochgefühl verspricht die Ideologie.

Was bewahrt andere Unzufriedene vor einer Radikalisierung?

Eine Reihe biologischer Algorithmen schützen uns davor, manipuliert zu werden. Das sind unterbewusste mentale Prozesse, zum Beispiel Heuristiken, die permanent neue Informationen bewerten und filtern. Vereinfacht gesagt werden Informationen, die unsere bestehenden Überzeugungen unterstützen als glaubwürdig eingestuft, während Dinge, die unsere Werte infrage stellen, automatisch abgewertet werden. Ziel dieser Algorithmen ist es, unsere Kern-Identität zu schützen. Ansonsten würden wir, je nach Gesprächspartner oder Propagandamaterial, permanent unsere Grundüberzeugungen wechseln. Diese Verteidigungs-Filterblase verliert ihre Wirkung, wenn wir uns in einer emotionalen Krise befinden, die unsere bisherigen Wahrheiten und Überzeugungen infrage stellt. Wer also aktiv nach einem anderen Leben sucht, ist potenziell auch anfälliger für extremistische Überzeugungen.

Wie läuft die Anwerbung?

Um die Verschwörung oder dann die Ideologie wirklich annehmen zu können, brauchen die Betroffenen einen glaubwürdigen Überbringer. Das ist in der Regel jemand, den man schon kennt. Dass sich jemand alleine im Online-Kontakt radikalisiert, kommt zwar vor, ist aber deutlich seltener. Der Mechanismus ist recht einfach: Es gibt einen, meist jungen, Menschen, der – was ja nicht ungewöhnlich ist – mit sich oder der Welt sehr unzufrieden ist, der Anschluss sucht. Dann kommen Hassprediger, Rekrutierer, Familienmitglieder oder Freunde ins Spiel, die diese Situation aktiv verknüpfen mit einem auf Verschwörungsdenken und Ideologie basierenden Lösungskonzept. Für Radikalisierungsprozesse braucht es also eine große Unzufriedenheit mit dem politisch-sozialen und persönlichen Status quo, eine emotionale Krise, Verschwörungsdenken und Ideologie, und zu guter Letzt auch charismatische Rekrutierer. Natürlich gibt es auch davon abweichende Fälle.

Sie vergleichen den Radikalisierungsprozess mit einem Tango. Warum?

Dieses Bild soll hervorheben, dass man niemanden radikalisieren kann, der das nicht will oder zumindest zulässt. Sowohl bei der Radikalisierung als auch bei dem Weg wieder heraus geht es darum, dass einer führt und der andere mitgehen muss – wie beim Tango. In einigen Fällen führen sogar die Rekruten den Radikalisierungsprozess an. In den meisten Fällen aber gibt es Netzwerke und Anwerber, die Menschen mit einem starken inneren Veränderungsdrang ansprechen und ihnen die Lösung all ihrer Probleme und die Beantwortung all ihrer Fragen in Aussicht stellen.

Kann das überall geschehen?

Im Prinzip ja. Es zeigt sich jedoch, dass es keine gleichmäßige geografische Verteilung von Radikalisierungen gibt, auch nicht zwischen Gegenden mit vergleichbaren sozio-ökonomischen oder demografischen Rahmenbedingungen. Egal wo auf der Welt, Radikalisierung konzentriert sich auf Hochburgen, das können Stadtviertel oder ganze Orte sein. Und: Sie findet zu etwa 80 Prozent in Offline-Strukturen statt, wo Rekrutierungsnetzwerke vor Ort für ihre Sache werben.

Wie kann man einen Betroffenen wieder herausholen?

Grundsätzlich kann man sagen, dass konfrontatives Unter-Druck-Setzen bei den meisten Extremisten nichts bringt. Gerade bei Personen mit sogenannter „verschmolzener Identität“, die sich also voll und ganz den Werten und Zielen ihrer extremistischen Gruppe verschrieben haben, ist es fast unmöglich, die Verteidigungs-Filterblase und damit verbundene Abwehrhaltung zu durchbrechen. Wie beim Weg hinein in geschlossene extremistische Weltbilder braucht es auch beim Ausstieg zunächst eine persönliche Krise, eine kognitive Öffnung. Die versprochene und erhoffte Aufwertung des eigenen Lebens hat also vielleicht nicht stattgefunden oder das anfängliche Hochgefühl ist abgeebbt. Manchmal führen auch extreme Gewalterfahrungen zum Umdenken. Wichtig ist, dass alternative Erklärungsmuster und Handlungsoptionen angeboten werden. Allein zu sagen „Was Du denkst, ist falsch“ und „Das darfst Du nicht tun“ wird selten zu gewünschten Verhaltensänderung führen. Die „Flüchtlingskrise“ und der Krieg in Syrien müssen beispielsweise besser erklärt werden, auch muss es mehr Möglichkeiten geben, sich produktiv zu engagieren. Das ist gerade für junge Menschen besonders wichtig.

Was sollte man anbieten?

Ausstiegsszenarien müssen realistisch sein. Der Absturz nach dem Ausstieg muss verhindert werden. Menschen verharren oft in einer für sie negativen Situation, wenn konkrete Alternativen nicht greifbar sind. Der Staat hat hier nur eine unterstützende Rolle, die Programme und Aktivitäten sollten aus der Zivilgesellschaft selbst kommen, am besten sogar aus dem Umfeld der radikalisierungsgefährdeten oder radikalisierten Person. Das erhöht die Glaubwürdigkeit und damit auch die Erfolgswahrscheinlichkeit der Intervention.

Welche Rolle spielen dabei Echokammern und Filterblasen im Internet?

Menschen haben generell die Tendenz, sich mit Gleichgesinnten zu umgeben und das für „wahr und richtig“ zu halten, was ihre bereits bestehenden Grundwerte und -überzeugungen untermauert. Online-Echokammern, also virtuelle Foren, in denen sich – durch Software unterstützt – hauptsächlich Gleichgesinnte austauschen, können diesen Effekt verstärken.

Inwiefern?

Man kann sich online geradezu in die Mentalität seiner eigenen Bezugsgruppe, seines „Stammes“, hineinsteigern und den ganzen Tag zeigen, wie man sich fühlt, sich freuen und aufregen, etwas liken oder hassen. Früher war es gar nicht so einfach, ständig die Stammesfahne hochzuhalten und sich abzugrenzen. Das geht online nun viel einfacher.

Dreht man sich dabei nicht nur um die eigenen Argumente?

Nein, nicht nur. Ich recherchiere häufig in Echokammern von Islamisten, Identitären, Rechts- oder Linksextremen. Dabei fällt auf, dass sehr wohl bekannt ist, was es sonst noch an Argumenten gibt und was die Gegner dazu sagen. Psychologische Experimente zeigen, dass die Präsenz von Informationen, gegen die bereits negative Gefühle bestehen, dazu führt, dass sich diese negativen Gefühle verstärken. Extremisten mobilisieren also ihre Anhängerschaft auch gerade dadurch, dass die Argumente und Schlüsselpersonen der „Anderen“ thematisiert werden und man sich gemeinsam darüber aufregen kann.

All das wird aktuell vom Populismus dankbar befeuert. Mit welchem Risiko für die Gesellschaften?

, weil er in Schwarz-Weiß-Kategorien argumentiert, gegen Minderheiten hetzt und Verschwörungsdenken propagiert. Extremisten treiben das dann weiter und spekulieren auf Eskalation und Polarisierung. Sie wollen einen Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Gruppen herbeiführen, da sie nicht militärisch oder durch Terrorismus alleine gewinnen können. Die Menschen sollen Angst vor ihren Nachbarn bekommen, die Unentschlossenen sollen sich radikalisieren. Dazu gibt es eindeutige Strategiepapiere, von Al-Qaida und dem „Islamischen Staat“ bis zu rechts- oder linksextremistischen Vordenkern. Die Provokation zur Überreaktion ist der Kern. Durch das Verbreiten von Angst vor Terrorismus und Gewalt sollen der Staat und die Mehrheitsgesellschaft überreagieren und dadurch die angebliche Opferrolle der Extremisten bestätigen. Dann können Extremisten sagen: Schaut her, wir haben es gleich gesagt – die führen einen Krieg gegen uns. Daher muss man bei allen Interventionen aufpassen, dass man Menschen nicht stigmatisiert und damit das Problem größer macht, als es schon ist. Der Weg in die Eskalation ist auch mit guten Absichten gepflastert.

Was empfehlen Sie also?

Bevor man in politisch oder sozial sensiblen Bereichen interveniert, muss man verstehen, was es für Besonderheiten und Befindlichkeiten vor Ort gibt. Dieses Wissen kann man sich nicht anlesen. Um die Wirksamkeit von Extremismusprävention zu erhöhen, sollte man deshalb noch stärker als bisher von vornherein Mitglieder und ehemalige Mitglieder der Zielgruppen an der Planung der Aktivitäten beteiligen. Diese sprechen die informelle Sprache, kennen die wichtigen kulturellen Bilder und die emotionalen Befindlichkeiten. Sonst ist die Wahrscheinlichkeit, dass man etwas auslöst, was man gar nicht wollte, fast genauso groß wie die, dass man gar nichts erreicht.

Die Fragen stellte Jan Kixmüller

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Zur Person: Alexander Ritzmann, 45, arbeitet am Brandenburgischen Institut für Gesellschaft und Sicherheit in Potsdam (Bigs) zu den Themen Demokratieförderung und Extremismusprävention.

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