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Zwitschern Sie noch oder labern Sie schon?

© REUTERS

Höheres Zeichenlimit: Kein Gedanke wird auch mit 280 Zeichen keiner

Der Kurznachrichtendienst Twitter wird zum Mittellangnachrichtendienst. 280 Zeichen, statt 140. Gedanken in (zu langen) Tweets.

Der erste XL-Tweet von US-Präsident Trump hatte 216 Zeichen. „Ich bereite mich für eine der Hauptreden auf der Nationalversammlung hier in Südkorea vor, dann werde ich nach China weiter reisen. Ich freue mich sehr, dort Präsident Xi zu treffen, der gerade erst seinen großen politischen Sieg eingefahren hat." Kannste vergessen. Aber der nächste Schritt von Potus wird nur logisch sein: Dekrete per Twitter, Regieren und Handeln direkt vom Smartphone aus.

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Die besten Grabinschriften waren immer schon die sehr kurzen. Wenn da "Warum?" steht, fängt sofort eine riesige Grübelei an.

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Seien wir mal ehrlich: Die 140 Zeichen waren der wirkliche Grund dafür, warum wir diesen US-Präsidenten immer missverstanden haben. Künftig werden die Trump-Tweets inklusive Gebrauchsanweisung geliefert. Die Welt wird wieder ein bisschen besser - dank Twitter.

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Welcher Vogel könnte 280 Zeichen am Stück zwitschern?

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Twitter-Chef Jack Dorsey hatte angemerkt, dass gerade Deutsch eine Sprache sei, für die das seit Gründung des Dienstes geltende Limit von 140 Zeichen zu knapp gewesen sei. Ob er wohl Begriffe wie Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung oder das Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz im Blick hatte? Die passen jetzt in jeden Tweet, was nur zeigt, dass mancher Fortschritt nur angeblich ist.

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Was wird aus der sonntäglichen "Tatort"-Twitterei? Noch weniger "Tatort" und noch mehr "Twitter"?

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Der Asiate wieder, war Twitter um Jahrhunderte voraus, als er sich komplexe Schriftzeichen zulegte. „Es hat sich gezeigt, dass in den Ländern aktiver getwittert wird, in denen die Twitter-Nutzer nicht so schnell an eine Zeichen-Obergrenze stoßen“, betonte Twitter. In China, Korea und Japan bleibe das bisherige Limit von 140 Zeichen bestehen, weil die dortigen Schriftzeichen den Nutzern die Möglichkeit böten, ihre Gedanken auf weniger Raum auszudrücken.

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"The hustle never ends", das wusste schon Tony Soprano, der noch nichts von Twitter wusste. 280 Zeichen sind eine größere Quälerei als 140 Zeichen. Weil: Der Mensch fürchtet den horror vacui. Also wird er hektisch enthemmt die Füllwörter herauskramen, die er sich mit 140 Zeichen so mühevoll abtrainiert hatte.

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Die letzte Bastion ist gefallen. Wer es kurz haben möchte, kann jetzt nur noch den Fernsehapparat anmachen, den Ton runterdrehen und in den Videotext schalten. 25 Zeichen á 40 Zeilen gibt es dort in bunter Pixeloptik. Dann ist Schluss, mehr ist technisch nicht möglich.

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Kein Gedanke wird auch mit 280 Zeichen keiner werden.

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Die "Headlineritis" wird bleiben. Was dazu kommt: die "Unterzeileneritis".

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Twitter kann nicht Nebensatz. Der kommt wieder. Neuer Reichtum oder neue Armut?

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Sind 280 Zeichen noch ein Kurznachrichtendienst, oder ein Mittellangnachrichtendienst?

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So ist das mit den Obergrenzen. Erst 140, dann 280 Zeichen. Pure Willkür, neue Freiheit, verschärfte Ungerechtigkeit?

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Wer soll das alles lesen? Die Zeit für Mediennutzung bleibt begrenzt, also wird der soziale Netzwerker mit sich selbst in scharfe Konkurrenz treten, wem er seine Aufmerksamkeit spendiert

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Hallo Jamaika: Deutschland braucht jetzt dringend und überall und morgen Glasfasernetze. Sonst breitet sich sich diese schlimme Krankheit der Tweet-Verstopfung aus. Ist noch schlimmer als Sprech-Durchfall.

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Übrigens, niemand muss 280 Zeichen nutzen, man darf weiter mit 140 oder weniger Zeichen twittern.

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Dass man auch auf 140 Zeichen Poesie, Philosophie und Phantasie entfalten kann, bewies Florian Meimberg bereits vor Jahren. In seinen "Tiny Tales" kam es immer nur auf die Länge an. Den Geschichten tat das keinen Abbruch - im Gegenteil. Meimberg initiierte damit die Textgattung der Bierdeckelgeschichte und erhielt 2010 für seinen Twitter-Account den Online Grimme Award.

Getwittert wird über den Kanal übrigens schon seit Anfang 2012 nicht mehr, auch hier war Meimberg seiner Zeit voraus. Er veröffentlichte ein Buch mit den besten Kurzgeschichten-Tweets. Echte Twitter-Fans müssen künftig vielleicht zum Buch, statt zum Smartphone greifen.

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Das Schlusswort soll Konfuzius, der Altmeister des Tweets, haben. "Wer Geist hat, hat sicher auch das rechte Wort, aber wer Worte hat, hat darum noch nicht notwendig Geist."

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