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Die Bibliothekarinnen Karin Bürger (l.) und Ursula Wallmeier wachen über die Büchersammlungen

© PNN / Ottmar Winter

Forschungsbibliothek des Moses Mendelssohn Zentrums: Verborgene Schatzkammer

Die Forschungsbibliothek des Moses Mendelssohn Zentrums im Herzen Potsdams hütet wertvolle Nachlassbibliotheken. Dabei tauchen manchmal auch einige Überraschungen auf.

Potsdam - Der Wegweiser im Hof der Nummer 8 am Neuen Markt zeigt nach links. Hier ist der Eingang zur Bibliothek des Moses Mendelssohn Zentrums zu finden. Wer dann noch Jacke und Taschen eingeschlossen hat, darf zu den Bücherregalen. Es ist still in der Bibliothek, genau die richtige Atmosphäre, um nachzudenken, zu forschen und auf dem Fundament des vorgefundenen Wissens nach neuen Erkenntnissen zu suchen.

Und es ist eng in der Bibliothek. Die Regale sind voll, aber übersichtlich nach einer hauseigenen Systematik aufgestellt. Für Nichtleser mag Bibliotheken der Ruch des Verstaubten anhaften. Tatsächlich haben es Schatzkammern so an sich, dass sich Staub auf sie niederlegt, denn nicht alles wird täglich gebraucht. Aber es wird gebraucht. Denn die Mär von dem alles zur Verfügung stellenden Internet ist genau das: ein Märchen. Nur ein Bruchteil dessen, was jemals gedruckt wurde, ist digitalisiert und online zugänglich. Fachzeitschriften müssen oft teuer lizenziert werden. Die meisten Bibliotheken, auch die des MMZ, haben Zugriff auf lizenzierte Datenbanken weltweit und vermitteln die Fertigkeiten, um sich in den elektronischen Welten zurechtzufinden.

Die neueste und wichtigste Forschungsliteratur zur Geschichte der Juden in Europa

Als Forschungsbibliothek im Herzen der Stadt bietet das MMZ die neueste und die wichtigste Forschungsliteratur zu der Geschichte der Juden in Europa. Der Lesesaal im Erdgeschoss zeigt nur einen kleinen Bestand der Bibliothek. Wer die Treppe ins Obergeschoss hinaufsteigt, findet auch noch einen Zeitschriftenlesesaal. In den dahinterliegenden Räumen aber scheint die Ordnung eine andere zu sein als im Untergeschoss. Hier gibt es keine Signaturen, stattdessen ragen Zettel aus den Büchern.

Die Sammlung des Potsdamer Archivars Alex Bein kam 1992 als erste ans MMZ. Die Schenkungen werden als Versöhnung und Vertrauensbeweis verstanden.
Die Sammlung des Potsdamer Archivars Alex Bein kam 1992 als erste ans MMZ. Die Schenkungen werden als Versöhnung und Vertrauensbeweis verstanden.

© MMZ

Es handelt sich um Nachlassbibliotheken, die vom MMZ übernommen und gepflegt werden. Angefangen hat alles mit Alex Bein. Dessen Bibliothek trage, so Ursula Wallmeier, Bibliothekarin am MMZ, den typischen Charakter eines Sammlertypus, der mit dem 20. Jahrhundert untergegangen ist und der sich dadurch, dass diese Sammlungen aufbewahrt werden, noch einmal in seinen Facetten zeigen kann. In Potsdam hatte Bein bis 1933 im Reichsarchiv gearbeitet, in Palästina wurde er der Leiter des Zionistischen Zentralarchivs. 1992 kam die 7000 Bücher umfassende Bibliothek an das eben erst gegründete MMZ und bildete den Grundstock der Institutsbibliothek.

MMZ bewahrt 15 Nachlassbibliotheken auf

Inzwischen sind es 15 Nachlassbibliotheken und Teilsammlungen, die das MMZ aufbewahrt und der Forschung zur Verfügung stellt. Zu ihnen gehört auch die ca. 10 000 Bände und Archivmaterial umfassende Bibliothek des Pädagogikprofessors Ernst A. Simon, der 1928 nach Palästina ausgewandert ist und sich Zeit seines Lebens als Vermittler im israelisch-arabischen Konflikt sowie im deutsch-israelischen bzw. christlich-jüdischen Verhältnis engagiert hat. Die handschriftlichen Notizen in den Büchern zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit der jüdischen Philosophie und Geschichte. Die viele graue Literatur, also Publikationen, die nicht im Buchhandel erschienen sind, macht Sammlungen wie diese besonders wertvoll. Die im Jahr 2000 ans MMZ gekommene Sammlung wurde dann auch in die Kategorie „national wertvolles Kulturgut“ aufgenommen und kann heute in einem separaten Raum des MMZ eingesehen werden.

In der Bibliothek des Moses Mendelssohn Zentrums (MMZ) am Neuen Markt finden sich Schätze wie der Petraca Band aus der Ludwig Geiger Bibliothek.
In der Bibliothek des Moses Mendelssohn Zentrums (MMZ) am Neuen Markt finden sich Schätze wie der Petraca Band aus der Ludwig Geiger Bibliothek.

© O. Winter

Aber warum geben Erben die Bibliotheken und Nachlässe nach Deutschland? Das sei eine sehr bewusste Entscheidung der Nachfahren, so Ursula Wallmeier, Bibliothekarin am MMZ. Die Übergabe sei jedes Mal ein hochsymbolischer Akt gewesen, der als Versöhnungsgeste und Vertrauensbeweis gewertet werden will. „Den Menschen, egal, ob es die Nachfahren oder noch die Sammler selber sind, die uns ihre Sammlungen anbieten, sind vor allem zwei Sachen wichtig. Erstens, dass die Sammlung zusammenbleibt, und zweitens, dass sie öffentlich zugänglich gemacht und vor allen Dingen der nächsten Generation zur Verfügung gestellt wird.“ Daraus ergebe sich ein Auftrag, ein politisches Mandat, das üblicherweise für Forschungseinrichtungen eher weniger in Anspruch genommen wird, dem sie sich aber als Bibliothek aktiv stellen.

Weit verbreitete Goethe-Verehrung

Neben der Sammlung des Zionisten Simon stehen im Magazin die Bücher des Goethe-Forschers und Kulturhistorikers Ludwig Geiger. Zwar war es ihm als Juden verwehrt, ordentlicher Professor an einer deutschen Universität zu werden, doch wurde er 1908, elf Jahre vor seinem Tod, zum Geheimen Regierungsrat ernannt. 1880 hatte er das noch heute erscheinende Goethe-Jahrbuch gegründet. Seine Bibliothek dokumentiert die in bürgerlich-jüdischen Kreisen weit verbreitete Goethe-Verehrung, die im Fall von Geiger eine Reihe von wegweisenden literaturwissenschaftlichen Arbeiten hervorbrachte.

Nun erwartet niemand eine Goethe-Werkausgabe im MMZ und erst recht nicht zwei oder drei. Tatsächlich betrachtet aber das MMZ jede ihr übertragene Privatbibliothek als Kulturgut, das in seiner Gesamtheit jeweils in der Lage ist, nicht nur Auskunft über den Sammler zu geben, sondern auch über intellektuelle Netzwerke und über das Zeitgeschehen. Das einzelne Buch wird durch Besitzvermerke, Ex Libris, Widmungen und Arbeitsspuren wie Unterstreichungen und Anmerkungen zu einem Unikat. Dubletten kann es da gar nicht geben, selbst wenn sich ein und dieselbe Goethe-Biografie in zwei Nachlässen befindet. In der Summe kann eine Privatbibliothek sogar eine Intellektuellen(lese)biografie erzählen. Man muss sie nur zu lesen wissen.

Zwischen Archiv und Bibliothek

Die Herausforderung ist keine geringe. Nicht nur muss Platz für die privaten Büchersammlungen gefunden werden, sie müssen auch weit über das bibliothekarische Normalmaß hinaus erschlossen werden. Im Katalog werden die besonderen Gebrauchsspuren und Eigentumsvermerke sorgfältig notiert. „Wir bewegen uns in dem Schnittstellenbereich zwischen Archiv und Bibliothek“, betont Karin Bürger, ebenfalls Bibliothekarin am MMZ, „denn den Privatbibliotheken liegt oft Material bei. Manchmal nimmt es die Ausmaße eines Teilnachlasses an, wie etwa bei Uriel Birnbaum.“ 

Gut 2000 Bücher waren angekündigt, in den Kisten und zum Teil in den Büchern selber offenbarte sich aber plötzlich ein umfänglicher Werknachlass, des expressionistischen Buchkünstlers und Grafikers, der 1956 verstarb. Diese Arbeiten sind inzwischen in einer gesonderten Datenbank erfasst und online recherchierbar. Auch sein Schreibtisch und sein Grafikschrank haben ein neues Zuhause im MMZ gefunden.

Jede Wand beherbergt Bücherregale

Längst haben sich die Bücher bis in die Büros der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des MMZ ausgebreitet. Jede Wand, so scheint es, die ein Regal beherbergen kann, wird zum Bücherhorten genutzt. Mit einer ihr übereigneten Bibliothek ist das MMZ sogar in der Stadt- und Landesbibliothek untergekommen. Denn die 14 500 Bände umfassende Bibliothek des Suhrkamp-Cheflektors und Literaturkritikers Walter Boehlich wollte nicht mehr in die Räume am Neuen Markt 8 passen. Deshalb können die ersten 400 Bände der berühmten edition suhrkamp nun auf dem Bücherbalkon der SLB gelesen werden, genauso wie die vielen Bände von Garcia Marquez dort nicht nur in deutscher Übersetzung, sondern auch im Original zu finden sind.

„Wir versuchen auch bibliothekarische Vermittlungsarbeit zu leisten, denn es handelt sich bei unseren Sammlungen oft um Themen und Menschen, die nicht im Fokus der Forschung sind, wie Ernst Simon, Uriel Birnbaum oder Ludwig Geiger“, so Karin Bürger. „Dadurch, dass wir diese Sammlungen erschließen, sind sie vor allem erst einmal auffindbar.“ In dieser Weise leistet das MMZ einen Beitrag zur Gedenkkultur, der in seiner nachhaltigen Wirksamkeit gar nicht hoch genug geachtet werden kann.

Die Autorin ist Bibliothekarin am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam und veröffentlichte 2017 eine Analyse zu Gedenkstättenbibliotheken

Helen Thein

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