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Zugehörigkeit. Vor dem Holocaust gaben viele deutsche Juden ihren Kindern deutsche Vornamen. Ihrer jüdischen Herkunft standen sie zwiespältig gegenüber.

© A. Klaer

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Wissenschaftler aus aller Welt haben sich Gedanken über die deutsch-jüdische Identität gemacht. Das Potsdamer MMZ macht sich für die Sicherung des deutsch-jüdischen Kulturerbes stark

Anfang der 90er Jahre war Julius H. Schoeps mit Kollegen nach San Francisco gereist, um dort ein jüdisches Ehepaar aufzusuchen, das bei seiner Flucht aus Nazi-Deutschland die gesamte Wohnungseinrichtung mitgenommen und in den USA wieder originalgetreu aufgebaut hatte. Sie trafen die Emigranten nicht mehr an, sie waren beide kurz zuvor verstorben, die Einrichtung war auf dem Sperrmüll gelandet. „Hier hatten wir die Jagd nach einem Stück deutsch-jüdischen Kulturerbes verloren“, sagte der Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien (MMZ) unlängst auf einer internationalen MMZ-Konferenz zum deutsch-jüdischen Kulturerbe.

Schoeps setzt sich seit Jahren für das Erfassen und Bewahren des Kulturerbes ein, das durch die Emigration von deutschen Juden in der NS-Zeit in alle Welt verstreut wurde. „Eine sehr rasche Bestandsaufnahme ist nötig“, sagte Schoeps vor dem Hintergrund, dass mit der Zeit zunehmend nicht erfasste Zeugnisse der deutsch-jüdischen Kultur verloren gehen. „Uns rinnt die Zeit wie Sand durch die Finger“, so Schoeps. Dass etwas unternommen werden muss, ist für den Historiker klar: Das deutsch-jüdische-Erbe habe keinen Ort mehr, an dem es festgemacht werden könne. „Es ist heute heimatlos.“ Schoeps nennt Ludwig Börne, Heinrich Heine oder Theodor Lessing. Nur wenn sich die deutsch-jüdischen Geistesgrößen genauso in die deutsche Kultur integrieren lassen würden wie ihre deutschen Ebenbilder, könne die deutsch-jüdische Kultur weiterleben.

Zwar macht Schoeps heute in Deutschland eine beachtenswerte Integration der jüdischen Denker und Künstler aus. Er nennt den Ludwig-Börne-Preis der Stadt Frankfurt/Main oder die Heinrich Heine-Universität in Düsseldorf. Doch sei diese Entwicklung noch sehr bruchstückhaft. Eine Koordinierungsstelle müsse eingerichtet werden. Daher hat er nun vorgeschlagen, parallel zur Stiftung „Preußisches Kulturerbe“ eine Stiftung „Deutsch-Jüdisches Kulturerbe“ einzurichten.

Am Potsdamer Mendelssohn-Zentrum befasst man sich im Rahmen des Projektes „German Jewish Cultural Heritage (GJCH)“ mit dem Erkennen, Erfassen und Bewahren von deutsch-jüdischem Kulturerbe – es geht dabei unter anderem um Nachlässe und Sammlungen von Künstlern, Literaten und Gelehrten. Zentral ist die Idee einer Spurensuche der deutschen Juden aufgrund ihrer Emigration nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in den 1930er Jahren. Das Projekt des MMZ wird gefördert vom Kulturstaatsminister, dem Auswärtigen Amt, dem Goethe-Institut und der Deutschen Welle.

Dass sich Deutschland beeilen muss, für das deutsch-jüdische Kulturerbe einzutreten, zeige auch der Fall des Komponisten Arnold Schönberg. Das Archiv mit seinem Nachlass sei vor einigen Jahren nach Wien gegangen, weil dort repräsentative Räume und eine Lehrstuhl zur Verfügung gestellt wurden. „Da konnte Berlin nicht mithalten“, so Schoeps. Das dürfe sich bei den Nachlässen etwa von Max Reinhardt oder Rachel Varnhagen nicht wiederholen.

Mit dem Forschungsprojekt strebt das MMZ nach eigenen Worten zugleich eine langfristige Vernetzung von Forschungseinrichtungen, Vereinen, Gemeinden und Museen aus aller Welt an, die sich mit der Bewahrung des deutsch-jüdischen Kulturerbes befassen. „Möglichst viele Zeugnisse sollen dabei digitalisiert und dadurch ein globaler, unmittelbarer Zugriff auf historische wertvolle Primärquellen ermöglicht werden“, so das MMZ. Auch Nachlassbibliotheken, Museumsbestände und Zeitdokumente würden dabei eine wichtige Rolle spielen. Schoeps erwähnte in diesem Zusammenhang, dass er auch ein persönliches Anliegen daran habe, dass Gemälde und Kunstgegenstände in diese Art von Kulturerbesammlung miteinbezogen würden.

MMZ-Direktor Schoeps setzt sich seit vielen Jahren für die Rückübertragung von Kunstwerken ein, die seiner Familie im Nationalsozialismus enteignet wurden. Die Herkunft und Besitzverhältnisse sollten auf Kunstwerken vermerkt werden. Schoeps nennt ein Bild von Adolf Menzel, das in einem deutschen Museum hängt. Es war in der NS-Zeit beschlagnahmt worden. Nun sei „Dauerleihgabe“ auf dem Bild vermerkt. „Das entbehrt jeden Kommentars“, so Schoeps

Fragt man nach dem deutsch-jüdischen Kulturerbe, kommt man um die Frage der deutsch-jüdischen Identität nicht herum. Schoeps konstatierte auf der Tagung für die Zeit vor 1933 ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit bei den deutschen Juden. „Sie waren in Deutschland angekommen, fühlten sich hier zuhause.“ Man habe sich bewusst als deutsche Juden gefühlt, Sprache und Mentalität seien deutsch geprägt gewesen. Auch äußerlich habe es kaum Unterschiede gegeben. Die Zäsur der Judenvernichtung führte schließlich zu einer grundlegenden Veränderung der Beziehungen. Heute würden 90 Prozent der in Deutschland lebenden Juden aus der ehemaligen Sowjetunion stammen. „Sie können mit der deutsch-jüdischen Tradition nichts anfangen“, so Schoeps. Umso wichtiger sei es, das gemeinsame Erbe zu erhalten.

Auch der US-Historiker Professor Michael A. Meyer stellte auf der MMZ-Konferenz fest, dass sich die deutsch-jüdische Identität durch das Menschheitsverbrechen der Shoah drastisch gewandelt habe. Vor Hitler hätten die meisten deutschen Juden sich integrieren wollen, hätten ihrer jüdischen Herkunft zwiespältig gegenüber gestanden. Heute seien die Beziehungen ins Gegenteil verkehrt. In Deutschland würden sich zunehmend Nichtjuden für jüdische Kultur interessieren, während die Juden nicht mehr ein Problem mit dem Judentum, sondern mit Deutschland hätten. Meyer, der 1941 als Kind aus Berlin emigrieren konnte, schließt mit dem Fazit, dass die Suche nach der Identität immer auch eine Suche nach sich selbst sei. Er zitiert Theodor Lessing: „Werde, der Du bist.“

Dass dies für die deutschen Juden nicht immer ganz einfach zu entscheiden war, zeigt auch die Untersuchung von Professor Michael Wolffsohn, die er zusammen mit seinem Potsdamer Kollegen Thomas Brechenmacher seit Jahren betreibt. Er belegt anhand der Vornamen deutsch-jüdischer Kinder die Einschätzung seiner Kollegen. Waren es von 1860 bis 1938 zum Großteil deutsche Vornamen wie Johanna, Rosa, Max oder gar Siegfried, die deutsche Juden ihren Kindern gaben, nahm nach dem Holocaust die Wahl jüdischer Vornamen stark zu. Und so kommt auch Wolffsohn zu dem Schluss, dass das heute in Deutschland bestehende Judentum ein ganz anderes ist, als vor 1933: „Es ist etwas ganz Neues.“

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