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Tagebuchnotiz eines zum Tode Verurteilten. Allein bis 1947 gab es in der SBZ rund 3000 solcher Fälle.

©  Andreas Klaer

Homepage: „Es ging auch darum, NS-Verbrechen zu sühnen“

Warum gab es in der SBZ nach 1945 so viele Todesurteile? In einer Studie versuchen Potsdamer Forscher, sich dieser Frage zu nähern

Herr Schaarschmidt, vor Kurzem haben Sie ein Buch mit neuen Erkenntnissen zu den Todesurteilen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) von Herbst 1944 bis Mai 1947 veröffentlicht. Was war Ihre Motivation, den Zeitraum direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der späteren DDR gerade jetzt zu untersuchen?

Das Buch hat einen langen Vorlauf und hat nichts mit dem 70. Jahrestag des Kriegsendes zu tun, was eigentlich naheliegen würde. Wir haben mit den ersten Planungen 2007 begonnen. Die Recherchen, an denen mehrere Institute beteiligt waren, starteten 2008. Es eröffneten sich uferlose Recherchemöglichkeiten. Wenn man nicht irgendwann den Deckel draufgemacht hätte, läge der Band wahrscheinlich heute immer noch nicht vor.

Warum nur ein relativ kurzer Zeitraum von knapp zweieinhalb Jahren?

Die Studie beginnt in dem Moment, als die ersten Truppen der Roten Armee das deutsche Reichsgebiet erreichen. Direkt hinter der Front sind die ersten Militärgerichte mitgezogen. Es geht bis zum Mai 1947, als in der Sowjetunion die Todesstrafe abgeschafft worden ist.

Wie kommt es, dass die Daten zu den Urteilen noch nicht ausreichend erfasst wurden?

Das ist nicht völliges Neuland. Aber das Interesse an der sowjetischen Besatzungsherrschaft und dem Repressionsapparat der Militäradministration entwickelte sich eigentlich erst nach 1989. Die Forschung hat sich zunächst auf die sowjetischen Speziallager konzentriert. Hier gab es viele Überlebende. Allerdings war immer klar, dass in diesen Lagern nicht nur Internierte gesessen haben, die wegen ihrer Verbindungen zur NS-Diktatur inhaftiert waren, sondern seit 1946 auch Verurteilte der sowjetischen Militärgerichte (SMT). 2005 ist die Studie „Erschossen in Moskau“ veröffentlicht worden, die sich explizit mit den Todesurteilen von 1950 bis 1953 beschäftigt hat, als die Todesstrafe in der Sowjetunion wieder eingeführt wurde. Damals ging es aber um andere Delikte als in den Nachkriegsjahren. Das war der Anstoß für unser Projekt.

Sie sprachen die Internierungslager an. Gibt es einen Überblick über die gesamte Besatzungszone?

Unsere Studie ist nicht regional zugeschnitten. Die Internierten tauchen hier nicht weiter auf. Es geht ja um die Verurteilten, in diesem Fall um die zum Tode Verurteilten, unabhängig davon, ob die Todesstrafe vollstreckt wurde oder nicht.

In wie vielen Fällen geschah dies?

Von 3300 Todesurteilen zwischen Herbst 1944 und Mai 1947 können wir sagen, dass 2500 vollstreckt wurden. In einigen Fällen wurden die Urteile nicht vollstreckt, in vielen Fällen wissen wir gar nichts, weil die Aktenlage unklar ist. Insgesamt gab es rund 14 000 Urteile der SMT, wobei zumeist Haftstrafen ausgesprochen wurden.

Wie sind Sie an das Material gekommen?

Es gab Vorläuferarbeiten, etwa die Untersuchung von Prozessakten am Hannah-Arendt-Institut. Dann nutzten wir eine weitere Datenbank bei der Stiftung Sächsische Gedenkstätten. Die ist dort entstanden, weil sich viele Menschen an sie wandten, um das Schicksal ihrer Angehörigen zu klären. Die Tribunale waren Militärgerichte, die fast immer geheim getagt haben. Es gab nur wenige Ausnahmen, in denen die Verhandlungen öffentlich stattfanden.

Die Verurteilten verschwanden einfach?

Die Leute sind nicht nur verschwunden, auch die Angehörigen wussten nicht, was mit ihnen geschehen ist, ob sie noch leben oder nicht. In einigen Fällen hofften sie bis in die 1960er-Jahre, dass es noch mal ein Lebenszeichen geben würde. Und es hat die umgekehrten Fälle gegeben, dass Verurteilte für tot erklärt wurden und dann eines Tages wieder auftauchten.

Waren die Urteile gerecht?

Das ist ein bisschen schwierig zu beantworten. Die Entscheidungen unterlagen oft einer gewissen Willkürlichkeit und sind nicht immer nachvollziehbar. Wir haben Todesurteile, bei denen man im Nachhinein sagen würde, die Betroffenen waren nur mäßig beteiligt an den NS-Verbrechen. Wir haben andere Fälle von stark belasteten Personen, die gar nicht oder nur zu Haftstrafen verurteilt wurden und in nicht wenigen Fällen nach 1955 nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Bonn und Moskau als Kriegsgefangene zurückgekommen sind. Einige sind von westdeutschen Gerichten belangt worden oder es hat zumindest Ermittlungen gegeben.

In den westlichen Besatzungszonen wurde im Rahmen der Entnazifizierung in vielen Fällen öfter mal ein Auge zugedrückt – weil man die Leute für den Wiederaufbau brauchte. War das in der SBZ auch so?

Nicht ganz. Im Westen gab es direkt nach dem Krieg eine sehr rigorose Phase der Internierung. In den 1950er-Jahren ruderte man zurück und gestand den bundesdeutschen Spruchkammern zu, über die NS-Belastung selbst zu entscheiden. Mit dem Effekt, dass sehr viele durchrutschten und beruflich wieder Fuß fassen konnten. Das ist das westliche Modell. In der SBZ sind es andere Motive, und zwar ganz pragmatische. Oft wurde überlegt, ob der Angeklagte nützlich ist oder nicht. Das sind etliche Leute mit Geheimdienstverbindungen gewesen, die etwa im Reichssicherheitshauptamt saßen, dort über Zugang zu Agentennetzen verfügten und die Zusammenhänge kannten, auch was die Zusammenarbeit mit Kollaborateuren in den besetzten Ländern anging. Die wurden abgeschöpft, bei anderen haben sie nach kurzer Zeit bemerkt, dass sie nichts Interessantes erzählen.

Gibt es dafür ein Beispiel?

Der sächsische NS-Gauleiter Martin Mutschmann etwa. Die Sowjets dachten, das wäre der ganz große Fang. Es gab die Idee, ihn bei den Kriegsverbrecher-Prozessen in Nürnberg anzuklagen, was die westlichen Alliierten aber ablehnten. Dennoch ist Mutschmann von den Sowjets eine ganze Weile gegrillt worden. Das Ende vom Lied war, dass er nicht so viel erzählen konnte wie erwartet. Im Januar 1947 wurde Mutschmann dann verurteilt und in Moskau erschossen.

Und wer wurde abgeschöpft?

Zum Beispiel Friedrich Panzinger, der zu den führenden Köpfen im Reichssicherheitshauptamt gehörte und Chef der Reichskriminalpolizei war. Er wirkte zeitweise auch in den Einsatzgruppen während des Russland-Feldzuges mit. Panzinger war massiv an Erschießungen der Einsatzgruppe A in Riga beteiligt. Man könnte meinen, dass dieser ganz oben auf der Fahndungsliste der Sowjets stand. Panzinger galt aber als Geheimnisträger. Er wurde zwar 1952 zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt, kam aber bereits 1955 als Kriegsgefangener wieder frei und ging nach Westdeutschland. Er arbeitete danach in der Organisation Gehlen mit, dem Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes. Gegen Panzinger wurden Ende der 1950er-Jahre schließlich doch Ermittlungen aufgenommen. Er beging im gleichen Jahr Selbstmord und entzog sich einer Verhaftung.

Lassen sich die Urteile regional zuordnen?

Die Militärgerichte waren an Einheiten der Roten Armee angeschlossen und tagten an unterschiedlichen Orten. In Potsdam war es die Lindenstraße 54, die heutige Gedenkstätte. Oder in der Leistikowstraße, neben dem Gefängnis. Es gab aber keine Schwerpunkte, sondern die Gerichte zogen von Ort zu Ort weiter in der gesamten Besatzungszone, wo die Inhaftierten in Gefängnissen saßen. Ein interessanter Aspekt ist dabei die Verfolgung von NS-Polizeibataillonen. Das waren Einheiten, die regional aufgestellt wurden und in Polen und der Sowjetunion hinter der Front an Massenerschießungen beteiligt waren. Nach 1945 kehrten sie zurück in ihre Heimatorte – häufig wieder als Polizisten oder in anderen Funktionen. Dort waren sie relativ gut greifbar für die Militärgerichte.

Was schließen Sie aus den Erkenntnissen?

Es ging uns darum, zu erkennen, worauf es den Russen bei den verhängten Todesurteilen ankam. Oft wird die sowjetische Nachkriegsjustiz in dem Zusammenhang gesehen, dass der juristische Zugriff auf die deutsche Bevölkerung dazu diente, die Diktatur durchzusetzen. In einem allgemeinen Zusammenhang stimmt das auch, da die Sowjetunion davon ausgegangen ist, dass es in Deutschland ganz viele Faschisten gibt, die man aus dem Weg räumen muss. Dahinter steht aber auch ein ganz klares Interesse daran, dass die Verbrechen in der Sowjetunion und der Massenmord an den Juden gesühnt werden müssen. Das ist verständlich.

Oft wird berichtet, dass es beim Durchzug der Roten Armee Richtung Berlin zu Gräueltaten an der deutschen Bevölkerung kam. Waren die Militärgerichte hingegen rechtsstaatlich?

Die Gerichte haben rechtsstaatlichen Standards nicht entsprochen, auch wenn sie sich formal und verfahrensmäßig anzunähern versuchten. In der Praxis sah das ganz anders aus, etwa bei den Verhörmethoden, den Haftbedingungen und der Folter. Dennoch: Es waren vielleicht die falschen Gerichte, aber häufig die Richtigen, die verurteilt wurden.

Hat sich durch Ihre Studie der Blick auf die sowjetische Besatzungszeit verändert?

Er ist durchaus differenzierter geworden, weg vom einfachen Bild der Terrorjustiz, in dem die Leute willkürlich auf der Straße verhaftet und wegen irgendwelcher Vorwürfe ins Gefängnis gesteckt werden, um dann Geständnisse zu erpressen. Damit will ich keineswegs den repressiven Charakter der sowjetischen Besatzungsherrschaft infrage stellen.

Sondern?

Es ging einerseits darum, in einem völlig feindlichen Umfeld als Besatzungsmacht Strukturen aufzubauen, um auf dieser Grundlage eine Diktatur zu errichten – andererseits aber auch um das berechtigte Interesse, Verbrechen zu sühnen. Wobei es nicht nur um Verbrechen der NS-Besatzungsmacht während des Russland-Feldzuges ging, sondern auch um politische Verantwortliche wie Mitglieder des Reichspropagandaministeriums. Es gab hier große Übereinstimmungen mit den westlichen Alliierten. Das Buch behandelt ein für die Arbeit in den Gedenkstätten außerordentlich wichtiges Thema. Unter den Verurteilten in den ersten Jahren nach 1945 gibt es viele, die zu Recht verurteilt worden sind. Hier stößt das bisherige Opfergedenken oft an seine Grenzen. Bis jetzt haben wir keine klare Informationen darüber, wie viele Verurteilte wegen tatsächlich begangener NS- und Kriegsverbrechen vor ein Militärgericht gestellt wurden. Diese Erforschung muss weitergehen, vor allem über die Fälle der Todesurteile hinaus. Die zu Haftstrafen Verurteilten müssten ähnlich intensiv erforscht werden wie jetzt die Todesurteile. Die Frage ist doch, wer saß in den Gefängnissen und warum? Ein pauschales Opfergedenken ist daher problematisch.

Das Gespräch führte Stefan Engelbrecht

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