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Das unbekannte erste Leben Erich Honeckers: „Annäherungen an den Nationalsozialismus“

Der Potsdamer Zeithistoriker Martin Sabrow hat über die unbekannten jungen Jahre des ehemaligen DDR-Staats- und Parteichefs Erich Honecker eine Biografie geschrieben. Darin geht es unter anderem um ein Rendezvous mit dem Terror, zehn Jahre NS-Haft und die verschwiegene Ehe mit einer Gefängniswärterin.

Herr Sabrow, Erich Honecker ist heute eher als grauer Parteifunktionär in Erinnerung. Warum ist dieses Bild lückenhaft?

Weil zu dem alterslosen Herrscherporträt, mit dem Honecker das SED-Regime in der DDR repräsentierte, eine windungsreiche Biografie führt. Hinter ihm verbirgt sich eine farbige Lebens- und Überlebensgeschichte und spiegeln sich die Ausschläge des dramatischen 20. Jahrhunderts.

Ihre Biografie wirft nun Licht in Honeckers weitgehend unbekanntes erstes Leben. Was hat Sie überrascht?

Meine Beschäftigung mit Honeckers Jugendzeit zielte nicht auf spektakuläre Enthüllungen, sondern auf eine kritische und kontextualisierende Sichtung seiner bekannten und selbst tradierten Ich-Erzählung. Mich interessierte, wie ein Herrscher, der aus Parteitreue und antifaschistischer Standhaftigkeit ein Gutteil seiner Legitimation bezog, 1980 ohne Not seine Lebensgeschichte veröffentlichen konnte und damit der Welt eine Wette auf die eigene Wahrhaftigkeit anbot, die er sicher zu gewinnen glaubte. Die eigentliche Überraschung besteht am Ende darin, dass Honecker sein Leben vor 1945 zwar hier und da frisierte und auch kaschierte, aber tatsächlich an keiner Stelle gezielt umfälschte: Er glaubte seine kommunistische Kontinuitätsbiografie. Dass sie an vielen Stellen die Wahrheit verfehlte, aber nirgends substantiell die Wahrhaftigkeit verletzte, hilft mir, die biografischen Bindungskräfte des Kommunismus an der Macht zu erklären.

Zeigt Honeckers kommunistische Musterbiografie Brüche?

Vielleicht weniger scharfe Brüche als vielmehr wichtige Nuancen: Seine Herkunft war weniger proletarisch als eher kleinbürgerlich; die illegale Widerstandsarbeit im Reich mehr von heroischer Schwäche als von erfolgreicher Selbstbehauptung geprägt. In der Pariser Emigration war Honecker vollkommen isoliert und später in Berlin mangels Vertrautheit mit der Reichshauptstadt auf denkbar falschem Posten. Im Zuchthaus gab Honecker seine politische Überzeugung zu keiner Zeit auf, aber er fand sich durch die Umstände doch zu äußerlichen und zeitweise vielleicht auch innerlichen Annäherungen an den Nationalsozialismus gedrängt, die er nach 1945 auch vor sich selbst nur mit Mühe hätte rechtfertigen können.

Annäherungen an den Nationalsozialismus? Das müssen Sie erläutern!

Als Zeuge im Prozess gegen einen früheren Kampfgenossen beeindruckte er den Volksgerichtshof durch seine weitreichende Aussagewilligkeit, und in zwei von seinem Vater gestellten Gnadengesuchen beteuerte er seinen Wunsch nach Eingliederung in die deutsche Volksgemeinschaft. Dass das nicht zwingend nur ein bloßes Lippenbekenntnis war, legt die Stellungnahme des Brandenburger Zuchthausdirektors nahe, der versicherte, dass der Häftling Honecker sich ernsthaft und ehrlich von seinen kommunistischen Anschauungen freigemacht habe.

Sie sehen den jungen Honecker als Überlebenskünstler. Inwiefern das?

Er bewies im Widerstand wie in seiner Haftzeit und schließlich während seiner abenteuerlichen Flucht – eigentlich waren es zwei Fluchten – ein Maß an Unerschrockenheit und Geistesgegenwart, das mir schon in der Recherche der einzelnen Umstände und Situationen staunenden Respekt abnötigte.

Honecker soll sogar an einem Terroranschlag beteiligt gewesen sein.

Im Januar 1935 in der Volksabstimmung um die Zukunft des Saargebiets zeichnete sich eine Niederlage der linken Einheitsfront ab, die für den Status quo plädierte. Daraufhin entwickelte offenbar der von der KPD ins Saarland abgeordnete Herbert Wehner eine Provokationsstrategie, die durch gezielte Sprengstoffanschläge die Lage destabilisieren sollte, damit der Völkerbundsrat womöglich die Abstimmung annullieren und so den drohenden Rückfall der Saar an das Reich verhindern würde. Für Honecker blieb das Rendezvous mit dem Terror allerdings flüchtig; ein durch die Weltpresse gehender Bombenanschlag in Neunkirchen, den Honecker mit einer zündenden Rede vor bewaffneten Junggenossen eingeleitet hatte, richtete nur unerheblichen Schaden an. Leidtragender war nachher vor allem Wehner selbst, der sich noch Jahre später in Moskau für seine ultralinke Gewaltpolitik rechtfertigen musste.

Was hatte Honecker nach Paris geführt?

Die verheerende Niederlage in der Volksabstimmung. Sie machte ihn, den bekannten kommunistischen Jugendfunktionär, im Saargebiet praktisch vogelfrei, noch bevor sich der NS-Repressionsapparat auch dort etablierte.

Wie kam es 1935 zur Verhaftung in Berlin?

Durch eine unbemerkt überwachte Sympathisantin war die Gestapo der Widerstandsgruppe auf die Spur gekommen, in der Honecker in Berlin mitarbeitete. Er selbst spürte die Beschattung, als er am Anhalter Bahnhof einen aus Prag eingetroffenen Geheimkoffer mit doppeltem Boden auslöste, und warf sich rasch in eine Taxe, die er am Bahnhof Zoo ebenso rasch wieder verließ, um seinen ihm nacheilenden Verfolgern durch den Tiergarten zu entkommen. Allerdings hatte er den Geheimkoffer in der Taxe liegenlassen, aus dem seine Funktion im kommunistischen Widerstand ersichtlich wurde, und er hatte offenbar dem Droschkenkutscher zu Beginn der Fahrt unvorsichtigerweise seine Adresse mitgeteilt. Dort wurde er am nächsten Morgen von der Gestapo verhaftet, als er nichtsahnend auf die Straße trat.

Es folgten zehn Jahre Zuchthaus – sicher eine prägende Zeit für Honecker?

Ja, aber die Haft bildete für Honecker eine Prägung besonderer Art: Sie lehrte ihn auf Absicherung bedacht zu sein, sie verhinderte geistigen Austausch und persönliche Weiterentwicklung, und sie stärkte die charakteristische Verschmelzung von Mission und Misstrauen, die die Erfahrungsgeneration der alten Kommunisten insgesamt in ihrem politischen Avantgardedenken verinnerlichte.

Warum warf seine Flucht 1945 bei den Genossen ein schlechtes Licht auf ihn?

Sie blieb lange undurchsichtig – und bildet eines der Motive, aus dem heraus Honecker sich 1980 bereitfand, seine Lebensgeschichte zu veröffentlichen. Die bohrendsten Fragen konnte er mit ihr allerdings nicht klären: Warum versuchte ein kommunistischer Häftling im März 1945, also mitten im Armageddon des „Dritten Reiches“ inmitten Berlins partout den schützenden Mauern seines Gefängnisses zu entkommen? Wie vermochte er die Stunden, Tage, Wochen danach in einer Reichshauptstadt zu überleben, in der die letzten Zuckungen der nationalsozialistischen Mordmaschine jeden aufgegriffenen Deserteur das Leben kostete? Was bedeutete es ihm, dass er auf seiner Flucht notgedrungen jeden, bei dem er anklopfte, vor die Wahl zwischen Verrat und Selbstgefährdung stellte? Dass er am Ende seiner Fluchtodyssee sogar ausgerechnet in das Schöneberger Amtsgericht eindrang, bevor er schließlich Schutz bei einer Wachtmeisterin seines eigenen Gefängnisses fand, die er nach dem Krieg auch noch heiraten sollte, das ließ er damals allerdings ungesagt.

Kam durch die Ehe mit Gefängnisaufseherin Charlotte Schanuel nicht seine politische Gesinnung ins Wanken?

Dafür gibt es keine Indizien. Seine spätere Ehefrau galt ihm als eine zwangsverpflichtete Antifaschistin. Das war sie nicht, sondern eine Laufbahnbeamtin des mittleren Justizdienstes, die nie ihre angestrebte Mitgliedschaft in der NSDAP erlangte. Sie fungierte als kleines Rädchen in der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und hatte je nach Diensteinteilung auch Todeskandidatinnen auf ihrem Transport nach Plötzensee zu bewachen. Nach der Befreiung lebte Honecker in gewisser Weise in einer Doppelwelt: Als Parteifunktionär und FDJ-Gründer bewegte er sich sicher in der UIbricht-Administration, und als Privatmann war er mit einer neun Jahre älteren Gefängniswärterin liiert, deren dienstliche Vergangenheit ihr unter anderen Umständen harte Bestrafung hätte eintragen können.

Zu Ulbricht soll Honecker eher zufällig gekommen sein.

Ja und nein. Dass Honecker sich nach seiner Befreiung sofort auf den Weg nach Berlin machte, geschah nicht aus Sorge um die Partei, sondern um seine Retterin aus dem Gefängnis. Dass er sich nach seiner Rückkehr einem der überall hervortretenden Antifa-Büros anschloss, die die verwüstete Stadt von den Trümmern zu befreien suchte, lief der politischen Linie Ulbrichts diametral zuwider. Aber als sich eine zufällige Begegnung ergab, kam er doch von Alter, Funktion und Leumund wie gerufen, um eine der wichtigsten Aufräumarbeiten in die Hand zu nehmen: die Umerziehung der Hitler bis zuletzt am stärksten ergebenen Jugend im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands.

Wie kamen Sie dazu, gerade Honeckers „Leben davor“ zu betrachten?

Die Idee kam mehr auf mich als ich auf sie. Ursprünglich war „das Leben davor“ nur als Einführungskapitel einer von 1912 bis 1994 reichenden Honecker-Biografie geplant. Aber dann stellte sich heraus, dass ich das so oft erzählte Leben des Jungkommunisten Erich Honecker entweder einmal mehr nacherzählen oder aber sehr detailliert betrachten müsste, um die vielen Überarbeitungsschichten und Schutzmechanismen freizulegen, unter denen Honeckers Vorleben nach 1945 in den Erwartungshorizont des ostdeutschen Herrschaftsdiskurses eingepasst worden war. Ich habe mich für letzteres entschieden, weil diese Freilegung nicht nur einiges über das biografische Gepäck verrät, das Honecker in die neue Zeit mitnahm, sondern nicht weniger auch über die innere Verfassung des Kommunismus an der Macht, die er bis 1989 mit gestalten und mit repräsentieren würde.

Das Interview führte Jan Kixmüller

ZUR PERSON: Martin Sabrow (62) ist Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam und Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Uni Berlin.

Martin Sabrow: Erich Honecker Das Leben davor, 1912-1945 Verlag C.H.Beck 2016

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