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In der Neuverfilmung wurde „Das doppelte Lottchen“ an den Wolfgangsee verlegt. Die schüchterne und verschlossene Lotte (Delphine Lohmann, links), trifft dort auf ihre temperamentvolle Zwillingsschwester Luise (Mia Lohmann).

© SWR/Uschi Reich Filmproduktion G

"Das doppelte Lottchen": Die Auferstehung der Freude

Selbst die dritte Neuverfilmung des Erich-Kästner-Klassikers „Das doppelte Lottchen“ bezaubert. Sie passt in eine Zeit bald verbriefter Kinderrechte.

Was liegt denn da im grünen Gras der Fernsehträume? Ein neues Ei so alt wie die deutsche Nachkriegsgeschichte – „Das doppelte Lottchen“. Komisch, es schmeckt immer noch. Nach blondem Mädchenkummer, nach Kindersehnsucht, nach Triumph über Elternlügen, nach etwas, was es im Leben leider kaum gibt, aber geben sollte.

Regisseur Lancelot von Naso und Niko Ballestrem (Drehbuch) vertrauen der Kästner’schen Grundidee. Sie schicken Lotte (Delphine Lohmann) und Luise (Mia Lohmann) ins Kinderheim am Wolfgangsee. Das wirkt, gerade heute, wie ein etwas altmodischer, von nostalgischen Eltern mit schlechtem Gewissen geschätzter Abschiebeort für Kinder. Als könnten Erzieher dort erreichen, was im Familienleben der Berufstätigen nicht mehr geboten wird: einen Ausweg aus innerer Einsamkeit, ein Irgendwie-Reifer-Werden in der Begegnung mit anderen Kindern.

Aber Kinderheime sind nicht so autoritär verhext, wie es sich die wundergläubigen Eltern vorstellen. Die Leiterin (Margarita Broich) tanzt lieber neckisch zur Musik, als sich um Seelenwunden zu kümmern, oberstes Kind unter Kindern. Reife, ganz im Sinne des prophetischen Dichters Kästner, ist die Angelegenheit der Kinder selber. Und was für eine schwierige auf der Bühne frühpubertärer Selbstdarstellung. Da braucht es alles, was die Aufklärung fordert: Mut statt Selbstmitleid, Verstand und List.

Lotte wächst brav und musterhaft ordentlich bei der chaotischen Mutter Charlize (Alwara Höfels) auf. Vom Wesen her das Gegenteil Lottes ist Luise, Produkt der liberalen Erziehung des Musikervaters und Weltenbummlers Jan (Florian Stetter).

Der freche Wildfang Luise

Wie sich die Mädchen als Zwillinge entdecken, wird in der jetzigen Neuverfilmung modern, also ziemlich cool geschildert. Sie tragen ihr Herz nicht nach außen. Als käme Lotte von Lotterie, nehmen sie ihre körperliche Ähnlichkeit als Zufall hin, der freche Wildfang Luise und die bildungsbeflissene Muttertochter Lotte, die einen von den Filmemachern erfundenen Sturm auf dem Wolfgangsee beim Besuch einer Mozartinsel übersteht, bloß um dem Spott Luises über sie, die biedere Brave zu entgehen.

Aber dann kommt der Kästner-Plot zum Zuge. Es sind die nächtlichen Heimwehtränen Lottes, angesichts derer die angriffslustige Luise die Waffen niederlegt. Beide, die scheinbar selbstsicheren Einzelkinder aus Singlehaushalten, erfahren erst theoretisch und dann praktisch, was ihnen zum Lebensglück fehlt: die Wahrheit über ihre Herkunft.

An dieser Stelle offenbart sich das Utopisch-Märchenhafte der Kästner-Erzählung: die Selbstbefreiung der Kinder von der Lüge der Eltern, ohne dass es Opfer gibt. Der im wirklichen Leben ewig um seine Mutter besorgte Dichter will den Frieden im familiären Urkonflikt Eltern gegen Kinder um jeden Preis. Ödipus – abgesagt, Depression dito. Es soll wieder Freude auferstehen, wo Kinder, die für die Fehler ihrer Eltern haften mussten, fast das Recht auf kindliche Unbekümmertheit verloren hätten.

Die neueste Lottchen-Version spiegelt diesen eigentlich wunderbaren Freiheitsgewinn – ohne in Tiefsinn zu verfallen – körper- und bewegungsbewusst wider. Die Sprache ist nämlich nicht die Stärke der Zwillingsdarsteller, die Blicke in seelische Abgründe in den pfiffigen Eltern-wechsle-dich-Aktionen mit intensiver Smartphone-Benutzung sind selten, wie es unserer Zeit entspricht. Das passt zum aktuellen Verfassungsoptimismus, die Rechte der Kinder ins Grundgesetz aufzunehmen.

Das reicht den belogenen Zwillingen

Auch in puncto Sehnsuchtserfüllung – ach, würden die Eltern als Mann und Frau wieder zusammenleben – nehmen es Ballestrem und von Naso lockerer: ein postfamiliäres Arrangement reicht Lotte und Luise, so lange sie sich als unzertrennliche Zwillinge haben. Die Mutter – Journalistinnen sind ja Wanderarbeiterinnen mit Computer – zieht nach Salzburg, wo der Vater als Musiker und Professor lebt. Das reicht den belogenen Zwillingen.

Wer es tiefer liebt, kann die Vorgängerversionen der Kästner-Story ansehen. Joseph Vilsmaier versetzte 1994 die Geschichte nach Schottland und beschwor um den moralischen Kern ein Abenteuerland mit einem sturmumtosten Leuchtturm.

Am merkwürdigsten und zugleich ergreifendsten wirkt die erste Version, die 1950 nach dem Drehbuch von Kästner entstand, der auch als Erzähler zu hören ist. Fünf Jahre nach Kriegsende wird eine Geschichte erzählt, die vollkommen aus der Geschichte gefallen zu sein scheint. In einer Zeit, da gerade erst der Krieg Familien auseinandergerissen hat und Suchkinder und verzweifelnde Eltern einander suchen, wird ein Drama im Bürgerambiente von Eltern erzählt, die Zwillinge kurz nach ihrer Geburt deswegen auseinandergerissen haben, damit der Vater, mit nur einer Tochter (die auch noch von einer Haushälterin betreut wird) unbelasteter als Musiker komponieren kann. Kästner, bei Goebbels in Ungnade gefallen, hatte vergeblich versucht, mit diesem vom Kriegselend ablenkenden Filmtreatment beim Film Arbeit zu finden.

1949 bot Kästner den Stoff Regisseur Josef von Baky an, der mit Jutta und Isa Günther (geboren 1938) als doppelte Lottchen das Urmodell des utopischen Märchens einer kindlichen Selbstermächtigung schuf. Das Wort Krieg fällt nicht einmal, aber aus den ernsten Gesichtern ist es als Unterton zu hören. Das Publikum jener Zeit wird es deutlicher vernommen haben.

Man kann vieles finden, wenn man zu Ostern auf kulturelle Ostereiersuche geht. Süßes, Bitteres und unvergänglich Lehrreiches.

„Das doppelte Lottchen“, ARD, Ostersonntag, 14 Uhr 05

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