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Das Kulturforum Osteuropa mit einer literarischen Tagung in Breslau / „Literarischer Reiseführer Breslau“ erschienen

Das Kulturforum Osteuropa mit einer literarischen Tagung in Breslau / „Literarischer Reiseführer Breslau“ erschienen Von Jan Kixmüller Wer in Breslau ankommt, kann ihn kaum verfehlen – den Hauptbahnhof. Diese mit Türmchen und Zinnen verzauberte „Ritterburg“ im heute polnischen Wroclaw, die so anders anmutet als ein Bahnhof. Der Philosoph Günther Anders beschrieb nach seiner Reise in seine einstige Heimatstadt 1966 diesen „schon damals uralten und lächerliche ,Hauptbahnhof“ als „unwahrscheinliches Bild“. Der Architekt müsse sich geschämt haben, etwas so Unromantisches wie einen Bahnhof als Bahnhof direkt erkennbar hinzustellen. Und mehr noch: „Es ist nicht zu glauben: gerade das mußte, als alles in Schutt und Asche sank (angeblich 75 Prozent der Stadt), gerade das mußte also stehen bleiben, gerade das intakt den Untergang überleben.“ Oder, fragte sich Anders, sollten die Polen diese „Deutschtümelei“ nach dem Krieg etwa wieder aufgebaut haben? Gustav Freytag, Norbert Elias, Gerhart Hauptmann und eben auch Günther Anders sind Namen, die man mit Breslau als Literaturstadt verbindet. Das Potsdamer Kulturforum östliches Europa hat sich dem „Literarischen Breslau“ nun gleich auf zwei Ebenen angenommen. Zum einen findet ab Morgen in Breslau zusammen mit dem Institut für Germanische Philologie der Universität Wroclaw eine literaturwissenschaftliche Tagung statt. Zum anderen ist vor wenigen Wochen im Verlag des Kulturforums der „Literarische Reiseführer Breslau“ von Roswitha Schieb erschienen. Die Hauptstadt Schlesiens war und ist ein faszinierendes Zentrum der Künste und Wissenschaften. Breslau inspirierte aber auch von jeher einheimische wie auswärtige Literaten. Die Schriften über die Stadt erschienen zum großen Teil in deutscher Sprache. Eine Blütezeit erlebte das Literarische Breslau im 17. Jahrhundert, als sich die Stadt zu einem Mittelpunkt der deutschen Barockliteratur entwickelte. Im 18. Jahrhundert verlor die Stadt jedoch zugunsten anderer Zentren, viele Autoren wanderten etwa nach Berlin ab. Ein weiterer Höhenflug der schlesischen Schriftsteller folgte an der Schwelle zur Moderne und im Gefolge des Expressionismus. Gerhart Hauptmann wurde zur überragenden Gestalt der naturalistischen und modernen Neuerung. 1933 setzte mit dem Nationalsozialismus auch in Breslau eine Zerstörung von Zivilisation und Kultur ein, die Nazis vernichteten das jüdische Breslau. Im Kampf um die „Festung Breslau“ wurde die Stadt im letzten Kriegsjahr zu rund 70 Prozent zerbombt. Der Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach dem Krieg folgte die Ansiedlung von Vertriebenen aus dem einst ostpolnischen, dann sowjetischen und heute ukrainischen Lemberg (Lwów/Liviv). Heute sind es hauptsächlich Polen, die sich mit Breslau literarisch auseinander setzen, doch die Stadt lebt auch in der deutschen Literatur weiter. „Während deutsche Autoren das polnische Wroclaw für sich entdecken, wenden sich polnische Schriftsteller verstärkt der Vergangenheit der Stadt zu“, umfasst der Literaturwissenschaftler Thomas Schulz vom Potsdamer Kulturforum die gegenwärtige Situation. Einen weiten Bogen von Lessings Breslauer Briefen über Eichendorf in Breslau und die deutsche und jüdische Literatur der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert bis hin zu den polnischen Autoren der Gegenwart wie Adam Poprawa, Tomasz Malyszek und Agnieska Wolny-Hamkalo spannt die Potsdamer Tagung in Breslau. Ein Gang in sieben Spaziergängen durch das literarische Breslau ist Roswitha Schiebs „Literarischer Reiseführer“ geworden. Beim Lesen durchstreift man in Gedanken und Zitaten zahlreicher Autoren eine Stadt, die Zentrum des Humanismus und der deutschen Barockdichtung war, Schauplatz des berühmten konservativen Bürgerromans „Soll und Haben“ von Gustav Freytag, Wirkungsstätte unter anderem von Gerhart Hauptmann, in den zwanziger Jahren Keimzelle der Hörfunk-Avantgarde und in den siebziger Jahren Anziehungspunkt für herausragende polnische Dichter und Theatermacher. Wo anders als im Herzen Breslaus, am „Ring“ benannten Marktplatz könnte diese Folge von Spaziergängen beginnen. Sowohl das Rathaus und das Stadthaus, als auch die prachtvollen Handelshäuser am Ring zeugen vom Bürgerstolz und Geschäftssinn der Einwohner. Der Philosoph Norbert Elias, dessen Vater eines der Häuser am Ring gehörte, schreibt, dass Breslau im Zentrum eine schöne Stadt war, vor allem das Wahrzeichen der Stadt, das Rathaus, einer der wichtigsten gotischen Profanbauten Mitteleuropas. Elias, Kind aus gutbürgerlichen jüdischen Kreisen, beschreibt die Stadt in seiner Erinnerung vor allem auch als deutsch: „Breslau war ganz und gar deutsch – es gab dort keine Polen, und die Polen, die es gab, waren völlig germanisiert. Ich habe dort nie ein polnisches Wort gehört.“ Eine Zeit, die in den Jahren des Sozialismus vergessen und verdrängt wurde, die nun aber, wie die aktuelle Tagung zeigt, immer stärker auch von polnischer Seite nachgefragt und erkundet wird. Einerseits zeigen die literarischen Spaziergänge – vor allem der letzte, den „verwehten Spuren“ vorbehalten – wie viel von diesem Breslau durch den Krieg und seine Folgen zerstört wurde. Andererseits aber finden sich immer wieder zahlreiche Spuren, an denen all die Umwälzungen folgenlos vorüber gegangen waren. Während nahezu die gesamte Bevölkerung ausgetauscht worden war, blieben architektonische Erinnerungen erhalten, die einen Blick in die Vergangenheit öffnen. Sei es nun der Bahnhof, das Rathaus oder ein Park. Günther Anders zumindest fand eines der Paradiese seiner Kindheit unverändert vor. „Der Südpark () die Natur ist eben ewig – völlig unverändert da. Jedenfalls konnte ich zwischen den Weiden und Birken den Teich schimmern sehen, auf dem ich mit Sechs das unterdessen natürlich längst schon wieder verlernte Schlittschuhlaufen gelernt hatte“. „Literarischer Reiseführer Breslau“, Roswitha Schieb, Potsdam 2004, , 19,80 Euro, 403 Seiten, ISBN 3-936168-08-3.

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