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Ausbruch wohin? In einem bayerischem Dorf verschwindet die 20-jährige Janine (Elisa Schlott) spurlos. Die Polizei glaubt nicht an ein Verbrechen. Ihre Mutter schon.

© ARD Degeto/BR/WDR/NDR/23/5 Filmp

ARD-Serie "Das Verschwinden": Sie wissen nicht, was sie tun

Mehr Generationenporträt als Krimi: Hans-Christian Schmid führt die deutsche Mini-Serie mit „Das Verschwinden“ über Grenzen hinaus.

Bayerische Provinz, Wiesen, Frühnebel über Wäldern, mittendrin ein Dorf mit kleinem Bauunternehmen, Einfamilienhäusern, Eltern, Kindern, Nachbarn, die ihre Rituale pflegen. Man kennt sich. Eine trügerische Postkartenidylle. Wenn man näher hinschaut, am Bahnhof: Kleindealer, Mädchen mit dicken Augenringen, auf der Suche nach Crystal Meth. Eines von diesen Mädchen verschwindet plötzlich, nach einer Drogennacht. Seltsamerweise glaubt niemand an ein Verbrechen.

Man könnte es sich jetzt einfach machen und sagen: Aha, Crystal Meth, das gab’s doch auch bei „Breaking Bad“, mit diesem unerhörten Chemielehrer, der Drogenzeugs kocht. Mittlerweile ist es ja guter Kritiker-Ton geworden, auf all die tollen US-Serien zu schauen, zu schwärmen, was für facettenreiche Geschichten bei den „Sopranos“, „Breaking Bad“ oder „Mad Men“ in den vergangenen Jahren entfaltet wurden. Horizontale Erzählweise! „Deutschland 83“, „4 Blocks“ oder zuletzt „Babylon Berlin“ haben gezeigt, dass es auch hierzulande mehr geben kann als 90-Minüter-Filme, immer „Tatort“ oder einfallslose Familienserie.

Und dass das gar nicht so spektakulär daherkommen muss. „Das Verschwinden“ geht auf eine Zeitungsmeldung zurück, die Autor und Kino-Regisseur Hans-Christian Schmid („Was bleibt“) gefunden hat: der Fall einer plötzlich entrückten jungen Frau in der Provinz, was Menschen einer Kleinstadt aus der Bahn geworfen hat. Er sei neugierig gewesen, wie sich so eine Geschichte in sechs statt anderthalb Stunden erzählen lässt, sagt Schmid. Das sei wohl wie bei einem Autor, der sein Leben lang Novellen geschrieben hat und nun die Gelegenheit bekommt, einen Roman zu schreiben.

Die Versuchung wäre groß gewesen, daraus einen Krimi zu machen. Schmid und Koautor Bernd Lange arbeiten mit Genre-Versatzstücken – korrumpierte Ermittler, verschlossene Bewohner–, wie sie vor Jahren auch in Dominik Grafs bravourösem Provinz-Sittengemälde „Das unsichtbare Mädchen“ zum Tragen kamen. „Das Verschwinden“ erzählt die Geschichte der alleinerziehenden Pflegerin Michelle Grabowski (Julia Jentsch), die auf eigene Faust in der Kleinstadt nach ihrer wie vom Erdboden verschluckten 20-jährigen Tochter Janine sucht und dabei ein Netz aus Lügen und Geheimnissen zutage fördert. Kein klassischer Krimi, sondern eine detailreiche, düstere Erzählung vom Leben der Menschen in der Gegenwart, von der Sprachlosigkeit zwischen Generationen. Mit starker Tonspur (The Notwist) und noch stärkerem Cast (neben Julia Jentsch Godehard Giese, Nina Kunzendorf, Sebastian Blomberg, Judith Engel, Martin Feifel).

Einsamer Ermittler-Wolf

Ein heilloses Dorf. Jede Figur, jede Type eine eigene Serie. Allen voran Michelle, Janines alleinerziehende Mutter. Je mehr sie nachforscht, desto weniger weiß sie über ihre Tochter. Dann der Kleindealer Tarik, der mit den Fragen um  Janine Skrupel bekommt. Oder der einsame Ermittler-Wolf, zerrieben zwischen Loyalität zu korrumpierten Kollegen und Wahrheitssuche. Zerrieben auch der Bauunternehmer mit zerrütteter Ehe, für den die Verschwundene arbeitete, und dessen renitente Tochter Manu, die den Eltern ein Studium in der Großstadt vortäuscht, um mit Janine einen Drogenhandel im Dorf aufzuziehen. Die Dritte im Mädchen-Bunde, Laura, plant zu Hause in holzgetäfelter Küche den Ausbruch aus der Provinz.

Nur: Ausbruch wohin? „Ihr habt doch alles!“, wird Manu irgendwann im dritten Teil von Janines Mutter angeschrien. Das Frappante an dieser Serie ist, dass sie sich jeglicher Wertungen enthält. Dass sie selbst der Perspektive ihrer starken Protagonistin, der verzweifelten, suchenden Mutter, nicht traut. Schmid schafft stattdessen fast mystische Verbindungen zwischen Menschen und Schauplätzen und Szenen. Bundesstraßen, Grenz-Bordelle, Dorfdisco, Küche, Wohnstube, Wald. Die Bilder von Kameramann Yoshi Heimrath erinnern an David Lynchs Serien-Mysterium „Twin Peaks“, das sich auch um das Verschwinden einer Frau in der Provinz dreht. Das „Verschwinden“ ist ein grandioser vierteiliger Roman.

„Das Verschwinden“, ARD, 22., 29., 30., 31. Oktober, jeweils 21 Uhr 45

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