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Keine Panik! Lilly Borchert (Maria Dragus) bekommt einen Angstanfall auf der Takelage, und Micha Haverkamp (Malik Blumenthal) spricht ihr gut zu. Foto:

© NDR/UFA GmbH

ARD-Film "Tod einer Kadettin": Warum starb Jenny Böken?

Im September 2008 kam die Kadettin Jenny Böken bei der Ausbildung auf dem Segelschulschiff "Gorch Fock" zu Tode. Die ARD bringt heute einen Film und eine Dokumentation dazu.

In der Nacht vom 3. auf den 4. September 2008 ging die damals 18-jährige Kadettin Jenny Böken bei einer Ausbildungsfahrt auf dem Segelschulschiff „Gorch Fock“ während ihrer Nachtwache vor Norderney über Bord. Elf Tage später bargen Retter ihren Leichnam nordwestlich von Helgoland. So lautet die trockene faktische Feststellung über einen nassen Tod, der bis heute Rätsel aufgibt. Das fast neun Jahre alte Geschehen ist dem Ersten eine Hauptabendfiktion („Tod einer Kadettin“) und eine anschließende Dokumentation („Der Fall Gorch Fock – Die Geschichte der Jenny Böken“) wert. Bloßer Unfall? Selbsttötung? Gar Mord?

Die Macher der Fiktion und auch der Dokumentation, Raymond Ley und Hannah Ley („Meine Tochter Anne Frank"), interessieren sich für eine moderne Form der Pest an Bord: die Ehrgeizseuche unter jungen See-Azubis, verursacht vom Konkurrenz-Virus der Leistungsgesellschaft und leichtsinnig unterschätzt von der Schiffsführung.

Nach (überflüssigen) spekulativen Appetizer-Bildfetzen zu Anfang kommen die Leys und der Kameramann Dominik Berg auf die Tragödie einer psychischen Überforderung auf einer modernen Militärgaleere zu sprechen, wo jungen Menschen Kameradschaft gepredigt, aber Ausgrenzung praktiziert wird. „Der Tod einer Kadettin“ ist ein maritimes Kammerspiel, ohne Naturpathos, ohne ewige See. Nie kommt man während des Films auf die Idee, jugendliche Abenteuerlust, gar die Sehnsucht nach großer weiter Welt würden Kadettinnen und Kadetten an Bord gelockt haben. Begeisterung fürs Militärische schon gar nicht.

Leistungsstarke Jungkarrieristen

Was sich hier zu einer Ausbildungstour zusammengefunden hat, interpretiert die Fiktion, sind strikt leistungsorientierte Jungkarrieristen im Antistresstraining. Wehe, wer wie die streberische Einserabiturientin und zum Medizinstudium entschlossene Lilly Borchert (Maria Dragus) aus Gesundheitsgründen zur Außenseiterin wird. Dann kommt zum Kampf gegen falsche Kameraden und widrige Elemente der Kampf gegen den eigenen Körper und gegen ein Über-ich, das Eingestehen von Schwäche nicht zulassen darf.

Deprimierend kläglich fallen die Szenen von der Marine-Ausbildung Lillys aus: Kapitän Krug (Harald Schrott) macht sich laut Drehbuch mehr Sorgen um den Ruf seines Seglers nach außen als um das Wohl der Kadetten. Es herrscht, so behauptet der Film, an Bord eine rücksichtslose Atmosphäre. Der Ausbilder Lillys (Alexander Grünberg), eine Kommisscharge, der mit Zusatzliegestützen straft, Knoten beibringt und die jungen Menschen zum Zoten ermuntert, erscheint ewig gestrig. Ein sexistisches Witzemilieu breitet sich aus: „Frauen sind wie Milch. Erst süß, dann dick, dann sauer.“

An der verhinderbaren Tragödie des Verlierens einer vom Selbstverlust Bedrohten haben die ärztlichen Dienste der Bundeswehr erheblichen Anteil. Das Mädchen weist gesundheitliche Defizite auf. Lilly zeigt Anzeichen von Diabetes, sie schläft immer wieder unvermittelt ein, gynäkologische Beschwerden kommen hinzu. Sie überwindet zwar ihre Höhenangst beim Klettern in die Takelage. Aber aus ihrer Außenseiterrolle kommt sie nicht heraus. Verachtung des Krankseins schmiedet moderne Leistungseliten zusammen. Lilly teilt diesen neurotischen Hass auf alles Schwache auch gegenüber sich selbst. Sie hätte nie auf das Schiff gedurft. Die Mediziner der Bundeswehr haben sich täuschen lassen. Der Lufthansa passierte das später auch, wie wir seit dem Absturz der Germanwings-Maschine in Frankreich wissen.

Tödlicher Unfall auch 2010

Ruhe kehrte auch später nicht auf die „Gorch Fock“ zurück. Der tödliche Sturz einer angeblich übergewichtigen Seekadettin aus der Takelage im Hafen der brasilianischen Stadt Salvador da Bahia 2010 führte zu bohrenden Fragen über den Sinn der Segelei auf der „Gorch Fock“.

Eine tolle Leistung legt die in Rumänien geborene Schauspielerin Maria Dragus als Lilly hin. In Michael Hanekes Meisterwerk „Das weiße Band“ gelang es Dragus, ihren aggressiven Kern hinter einer Unschuldsfassade in sittsamkeitsbesessener Zeit zu verstecken. Den Zuschauer schauderte. Auf der „Gorch Fock“, als narzisstisch gekränkte Kranke, erweckt sie Mitleid und Befremden zugleich, je angestrengter sie die Gesunde spielt und innerlich vereinsamt.

„Tod einer Kadettin“, ARD, Mittwoch, 20 Uhr 15; „Der Fall Gorch Fock – Die Geschichte der Jenny Böken“, ARD, Mittwoch, 21 Uhr 45

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