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Homepage: Als Kampfgruppen zu Demonstranten wurden

Ein Sammelband der Potsdamer Militärhistoriker beleuchtet die Rolle der Nationalen Volksarmee beim Mauerfall 1989/90

Die Situation war brenzliger als bisher angenommen. Als vor 25 Jahren das DDR-Regime zusammenbrach und friedliche Demonstranten klarmachten, dass der sozialistische Staat keinen Rückhalt im Volk der DDR hatte, hätte es zu einer gewaltsamen Eskalation kommen können. Das legen die Autoren eines Sammelbandes nahe, der sich mit der Rolle des Militärs in der Wendezeit 1989 befasst. Eine halbe Million DDR Bürger hätten zu den Waffen und zum Einsatz gegen Nachbarn und Kollegen gerufen werden können, hat der Initiator des Bandes , der Militärhistoriker Rüdiger Wenzke, herausgefunden. Weitere etwa 200 000 Mann, die als besondere Kampfgruppe für den Einsatz im Innern ausgebildet waren, standen ebenfalls bereit.

„Es gab Betonköpfe, das hätte auch ein Bürgerkrieg werden können“, stellt Wenzke zur Buchvorstellung fest. „Wäre der Befehl zum Einsatz gekommen, wären wir marschiert“, sagt ein ehemaliger Kommandant der damaligen Streitkräfte der DDR. Aber nicht alle wären marschiert. Viele Bürger der DDR hatten für sich entschieden, dass sie an der gewaltsamen Aufrechterhaltung des sozialistischen Status quo nicht mitwirken wollten. So erschienen nur etwa 40 Prozent der Kampfgruppen, die gegen die Montagsdemonstrationen eingesetzt wurden. Der Rest blieb zu Hause, oder lief gleich bei den Demonstranten mit. Dass ein Kampf gegen das eigene Volk auf Dauer nicht durchzuhalten war, muss irgendwann in den 90er-Jahren auch den Oberen der DDR aufgefallen sein. Hatte es jahrzehntelang den Schießbefehl an der DDR Grenze gegeben, der etliche Flüchtlinge das Leben kostete, so fehlten in der Umbruchzeit 1989 klare Regelungen, an denen sich die Grenzsoldaten hätten orientieren können. Harald Jäger und Edwin Görlitz von der Passkontrolleinheit am Grenzübergang Bornholmer Straße handelten nach eigenem Gutdünken, als sie am 9. November 1989 als Erste den Weg in den Westen freigaben. „Wir fluten jetzt“, hieß es, als sie die Grenzschranken öffneten, damit die vorne Stehenden nicht von den Nachdrängenden an der Schranke zerquetscht wurden. Als Medien Jäger später zum Helden erklären wollten, winkte der ab. Helden seien die Demonstranten gewesen.

Wie unvorbereitet die DDR-Führung auf den Ansturm des Volkes letztlich war, zeigt ein Vorfall, von dem Hans-Peter Bartels, der Vorsitzende des Bundesverteidigungsausschusses berichtet. Als 1989 bei einer Demonstration in Plauen Wasserwerfer eingesetzt werden sollten, mussten diese von der örtlichen Feuerwehr geordert werden. Damit waren die Feuerwehrleute vor Ort allerdings nicht einverstanden und legten im Nachhinein gegen die Zweckentfremdung ihrer Fahrzeuge Protest ein.

Wie es um die Moral der Truppe im Oktober 1989 tatsächlich stand, schildert Wenzke anschaulich anhand des Luftsturmregiments 40, das mit Schlagstöcken und Schilden ausgerüstet gegen Demonstranten vorgehen sollte. Es kam nicht zum Einsatz, zudem war die Truppe schon reichlich demoralisiert, was sich bei der Rückverlegung in die Unterkünfte zeigte. Kollektives Rowdytum in Verbindung mit Alkohol hätten zu einer Einschränkung der Gefechtsbereitschaft geführt, schildert eine Militärchronik im Bundesarchiv. „Die Fallschirmjäger zertrümmerten die Einrichtungen ihrer Unterkünfte“, so Wenzke.

In dem Sammelband zeichnen die Autoren Rüdiger Wenzke, Heiner Bröckermann, Daniel Niemetz und Matthias Uhl ein detailliertes Bild der politischen Entwicklung, die zum Zusammenbruch der DDR führte, unter dem Blickwinkel der militärischen Kräfte. Heiner Bröckermann schildert, wie sich die Sicherheitspolitik der DDR aus der Not gegenüber derjenigen der UDSSR verselbstständigte, Wenzke und Niemetz stellen dar, wie NVA und Grenztruppen in der Krise reagierten und welche spezielle Rolle Volkspolizei-Bereitschaften und „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ eigentlich hätten spielen sollen. Die besondere Rolle der „sowjetischen Truppen in der DDR zwischen Perestroika, Wende und Mauerfall“ beschreibt Matthias Uhl. Mit reichlich Zahlenmaterial und ausgewählten Originaldokumenten entsteht ein anschauliches Bild der brenzligen Situation im Jahr 1989. Auf die damalige Dramatik weist der Herausgeber des Bandes, Christoph Links, hin. Er erzählt von einem Freund, dem ein Polizist bei einer Demonstration an der Gethsemanekirche eine blutende Kopfwunde schlug. Wer damals geschlagen hatte, war allerdings nicht zu ermitteln. Es habe ein organisatorisches Chaos bei den Staatsschützern der DDR geherrscht, so Links.

„Möglicherweise hätte nur ein Tag anders verlaufen müssen und es wäre zum Knall gekommen“, sagt Links. Die damaligen Ereignisse hätten sich überstürzt, deshalb habe er im Herbst 1989 angefangen, eine Chronik der Ereignisse zu verfassen, 163 Tage lang. „Tag für Tag“, habe er festgehalten, wie die DDR sich auflöste. Was allerdings damals die Rolle des Militärs und der Kampfgruppen der DDR war und wie labil die Kräfteverhältnisse waren, werde erst jetzt mit dem vorliegenden Buch klar. Richard Rabensaat

„Damit hatten wir die Initiative verloren. Zur Rolle der bewaffneten Kräfte in der DDR 1989/90“, Rüdiger Wenzke (Hrsg.), Ch. Links Verlag

Richard Rabensaat

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