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Ambivalent. 100 Jahre nach der Oktoberrevolution weiß in Russland heute kaum jemand, wie mit dem geschichtlichen Ereignis umgegangen werden soll. Ob Lenin und Stalin Helden oder Schurken waren, sei für Russen heute nicht eindeutig. Hier ein Bild aus der Ausstellung zum Jubiläum am historischen Ort des Winterpalasts in St. Petersburg.

© F. Kohler/dpa

100 Jahre Roter Oktober: Die Nachwehen der Revolution

Das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) untersucht die Deutungsgeschichte des „Roten Oktobers“. In Russland ist der Umgang mit der Revolution längst zum Problemfall geworden.

Potsdam - Die Nachwirkungen der Oktoberevolution in Russland im Jahr 1917 sind immer noch zu spüren – etwa in Kuba, in China oder in Nordkorea. Noch heute sind hier die drei wesentlichen Säulen des vor 100 Jahren geformten kommunistischen Herrschaftsmodells – die Armee, die Partei und der Geheimdienst – das tragende Fundament der Staaten, so die These von Jan Claas Behrends. Der Historiker vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF) hat sich im Jubiläumsjahr der Revolution mit deren Geschichte von 1917 bis heute beschäftigen. Ausgangspunkt sind jeweils die Feiern zur Würdigung des Ereignisses in Russland im Rhythmus von zehn Jahren. Behrends ist Russlandexperte und erforscht die moderne Geschichte Osteuropas. Nun hat er das Buch „100 Jahre Roter Oktober“ herausgegeben.

Insbesondere in China orientiere man sich demnach heute noch an dem Partei- und Herrschaftssystem, das sich in den folgenden Jahrzehnten nach der Oktoberrevolution in Russland formierte. Die Partei als dominierende gesellschaftliche Herrschaftskaste, der alles überwachende Geheimdienst und die Konzentration der Herrschaft letztlich auf den einen Mann an der Spitze der Partei. Das seien typische Merkmale der Herrschaftsstrukturen der UdSSR gewesen. Mao habe sich als gelehriger Schüler Stalins erwiesen, so die Schlussfolgerung von Behrends.

Oktoberrevolution: 100 Jahre später weiß niemand in Russland so genau, wie man mit dem Ereignis umgehen soll

Aus dem in der UdSSR für heroisch gehaltenen, geschichtlichen Ereignis ist in Russland mittlerweile ein Problemfall geworden. Wie sich die Würdigung in den vergangenen 100 Jahren gewandelt hat, zeichnen drei Herausgeber – Behrends, Thomas Lindenberg (ehemals ZZF) und der Historiker Nikolaus Katzer – nach.

Die Novemberrevolution bildete den Ausgangspunkt für die rund 60 Jahre währende Herrschaft der kommunistischen Partei der Bolschewiki in der UdSSR, die aus dem Zarenreich hervorging. Ausgehend vom Revolutionsjahr schildern die Autoren den Wertungswandel des Ereignisses. Auch russische Autoren sind an dem Buch beteiligt. „Sicher gibt es für die russischen Autoren Einschränkungen. Aber was diese hier in Deutschland auf Deutsch veröffentlichen, wird in Russland eigentlich nicht wahrgenommen“, erklärt Behrends. Der Wissenschaftler hat in Moskau studiert und sich als Osteuropahistoriker bei zahlreichen Reisen und Studienaufenthalten ein umfassendes Bild vom zerfallenen Sowjetreich gemacht.

Früher wurde der Jahrestag der Oktoberrevolution, die je nach Kalender entweder am 25. Oktober oder am 7. November stattfand, in Russland mit großem Pomp gefeiert. Genau 100 Jahre später wisse in dem Russland, das aus der UdSSR hervorgegangen ist, niemand mehr ganz genau, wie mit dem geschichtlichen Ereignis umgegangen werden soll, so Behrends. Ob Lenin und Stalin Helden oder Schurken waren, sei für Russen von heute nicht eindeutig.

Der Moment der Bolschewisten war der „Sturm aufs Winterpalais“ in Petrograd

Zwei Revolutionen fanden im Jahre 1917 in Russland statt: die Februar- und die Oktoberrevolution. Bis zum Februar 1917 hatte der Zar die letztendliche Regierungsgewalt in Russland inne. Das Parlament, die Duma, war ihm unterstellt. Nachdem sich aber die Versorgungslage in Russland aufgrund des Ersten Weltkriegs drastisch verschlechtert hatte und viele hungerten, wurde der Unmut in der Bevölkerung über die feudale Herrschaft groß. Das Parlament, das bisher im Einklang mit der Monarchie herrschte, erklärte sich im Februar für allein zuständig. Es beendet die Beteiligung Russlands am Krieg allerdings nicht. Das führte zu einer Parallelherrschaft von Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten, die sich unmittelbar gründeten, und der provisorischen Regierung.

Die Regierung beabsichtigte, eine konstituierende Versammlung einzuberufen. Die allerdings kam zu spät, denn bereits vorher hatten die Bolschewisten unter Lenin und Trotzki der provisorischen Regierung den Garaus gemacht. Mit ihrem „Sturm aufs Winterpalais“ in Petrograd gingen die Bolschewisten in die Geschichte ein. Aus dem dann folgenden Bürgerkrieg mit Millionen Toten gingen die Kommunisten als Sieger hervor. Zwangskollektivierungen und die völlige Um- und Neuformung des Sowjetstaates unter Stalin forderten jeweils nochmals Millionen Opfer.

Stalin wird in Russland auch heute weitgehend positiv bewertet

Dennoch werde Stalin heute vorwiegend positiv bewertet, stellt Jan Claas Behrends fest. „Das Fernsehen, verschiedene Serien und Dokumentarfilme stellen Stalin als großen Führer mit kleinen menschlichen Fehlern dar. Wenn Historiker ein differenziertes Bild zeichnen, wird dies meistens nicht wahrgenommen“, so der Forscher. Die Autoren beschreiben, dass auch heute noch das Bild der früheren kommunistischen Herrschaft von der Darstellung des „Großen Vaterländischen Krieges“, wie der Zweite Weltkrieg in der UdSSR bezeichnet wird, geprägt sei. Immer noch treten die Opfer der Sowjetherrschaft hinter dem militärischen Sieg zurück. Und auch der Sieg über Hitlerdeutschland wurde mit Millionen Toten erkauft.

Warum aber, fragen sich die Autoren, gelang es den Bolschewiki trotz offenkundig gewalttätiger Herrschaftsstrukturen, denen Millionen Menschen zum Opfer fielen, über mehrere Jahrzehnte die Sowjetunion zu regieren? Im Wettstreit der Systeme nach dem Zweiten Weltkrieg, der in den Kalten Krieg mündete, konnte die Sowjetunion markante Erfolge vorweisen: Der erste Mensch im Weltraum war 1961 der Russe Juri Gagarin, was den USA einen schweren mentalen Schock versetzte.

Russland: Vom Agrarstaat zum Industriestaat

Aus dem völlig rückständigen Agrarland Russland schufen die Bolschewisten einen Industriestaat, der mit den USA konkurrierte. „Die Bolschewiki waren beides, Utopisten und Realpolitiker. Zu ihren Stärken gehörte es, überspannte Ziele wiederholt den gewandelten Gegebenheiten anzupassen. Gerade der unbedingte Macht- und Überlebenswille, der schon den unwahrscheinlichen Erfolg des Coups im Oktober 1917 ermöglicht hatte, begründete weltweit den Glauben an die Legitimität ihres Projekts“, so die Autoren.

Die Oktoberrevolution faszinierte weltweit auch die Intellektuellen. Der amerikanische Journalist John Reed schrieb seinen später verfilmten Bestseller: „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“, und auch der spätere Nobelpreisträger Ernest Hemingway war als Reporter im spanischen Bürgerkrieg von einer deutlichen Sympathie für das kommunistische Regime inspiriert. Zudem begann das Vorhaben mit dem Sturm aufs Winterpalais auch vergleichsweise unspektakulär. Denn großer Widerstand stellte sich den Bolschewisten nicht entgegen. Die bürgerlichen Parteien hatten mit ihrer Fortführung des Krieges alle Sympathien verspielt. Leo Trotzki, der schon 1905 im Alter von 26 Jahren erfolgreich einen Revolutionsrat in Petersburg geleitet hatte, erwies sich dann auch 1917 als fähiger Organisator des Umsturzes der Bolschewisten. Im anschließenden Bürgerkrieg war er rücksichtsloser – aber militärisch herausragender – Organisator der Bolschewiken. Die weitere Entwicklung der UdSSR sah er kritisch und hätte wohl auch nicht der diktatorischen Ausformung der Herrschaft der Bolschewiki zugestimmt. Stalin schließlich ließ Trotzki ermorden. In der heutigen Diskussion spiele Trotzki hingegen keine Rolle mehr, stellt Behrends fest.

Unterschiede zwischen Russland, Polen und DDR

Überhaupt weiche das öffentliche Bild der Oktoberrevolution in Russland noch immer deutlich von den historischen Begebenheiten ab. Eher die ideologisch motivierten Filme Sergej Eisensteins und offiziös manipulierte geschichtliche Darstellungen hätten das Bild der Oktoberrevolution geformt, folgern die Buchautoren. Zwar seien die Archive mittlerweile auch für russische Historiker geöffnet. Aber die wenigen neuen und zutreffenden geschichtlichen Darstellungen russischer Historiker würden kaum wahrgenommen.

Auch in der gegenwärtigen Herrschaft Putins erkennt Behrends die tragenden Säulen der früheren Sowjetherrschaft, zumal sich die noch in der UdSSR formierten Institutionen nicht grundlegend gewandelt hätten. Dort seien teilweise noch die gleichen Leute beschäftigt. Darin unterscheide sich Russland beispielsweise von Polen und der verblichenen DDR, so der Historiker. Erst nachdem Putin abdanken werde, sei voraussichtlich eine Art von erneuter Perestroika in Russland zu erwarten. Denn so sagt Behrends: „Russland könnte von einer Öffnung und Annäherung gegenüber dem Westen eigentlich nur profitieren.“

100 Jahre Roter Oktober – Zur Weltgeschichte der Russischen Revolution. Ch. Links Verlag, ISBN 978-3-86153-940-7

Richard Rabensaat

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