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Ende Januar beim zweiten Koalitionsausschuss in neuer Konstellation: Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Norbert Walter-Borjans (SPD).

© Paul Zinken/dpa

Update

Wahl von Thomas Kemmerich erschüttert Groko: Union und SPD kommen Samstag zum Krisentreffen zusammen

Politbeben in Thüringen: Die Wahl von FDP-Mann Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD erfolgte gegen den Willen der Bundes-CDU. Die Politik in Berlin ist in Aufruhr.

Nach der Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum neuen Ministerpräsidenten von Thüringen herrscht im politischen Berlin Entsetzen. Die Spitzen der Union forderten am Mittwochabend unisono Neuwahlen in Thüringen. Die Folgen für die große Koalition im Bund sind noch nicht absehbar. Am Mittwochabend erfuhr die Deutsche Presse-Agentur, dass am Samstag ein Krisentreffen stattfinden soll: Dann wollen die Parteispitzen in einem Koalitionsausschuss über Konsequenzen aus der Entscheidung in Erfurt beraten. Die Initiative dazu ging von der SPD aus, sagte deren Ko-Vorsitzender Norbert Walter-Borjans.

CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer kritisierte das Stimmverhalten der Thüringer CDU-Landtagsfraktion scharf. Die Fraktion habe „ausdrücklich gegen die Empfehlungen, Forderungen und Bitten der Bundespartei“ gehandelt, betonte die Parteivorsitzende am Mittwoch in Straßburg. Sie sei der Auffassung, „dass man darüber reden muss, ob neue Wahlen nicht der sauberste Weg aus dieser Situation sind“.

Das Präsidium der Bundes-CDU habe einstimmig Neuwahlen in Thüringen empfohlen, sagte Kramp-Karrenbauer weiter. Die Thüringer CDU-Fraktion lehnt Neuwahlen allerdings ab.

Am frühen Nachmittag war Thomas Kemmerich im dritten Wahlgang im Erfurter Landtag mit 45 Stimmen gewählt worden. Er hatte damit eine Stimme mehr als der bisherige Amtsinhaber Bodo Ramelow (Linke).

Damit stimmte die AfD-Fraktion offenbar geschlossen für den FDP-Kandidaten. Der parteilose Christoph Kindervater, der eigentlich von der AfD unterstützt wurde, erhielt keine einzige Stimme. Es gab eine Enthaltung. Kemmerich wurde im Anschluss sofort vereidigt.

Bodo Ramelow in Thüringen gescheitert

Somit ist das Projekt einer rot-rot-grüne Minderheitskoalition in Thüringen gescheitert. Ungeachtet fehlender Mehrheiten nach der Landtagswahl von Ende Oktober wollte Ramelow sein Linksbündnis, mit dem er bereits fünf Jahre regiert hatte, eigentlich fortsetzen. Kurz nach der Wahl gab es heftige Kritik aus allen politischen Lagern und aus der Zivilgesellschaft (einen Überblick über die Reaktionen lesen Sie hier).

Um 15:30 Uhr trat der neue Ministerpräsident vor die Mikrofone im Landtag: "Es geht um Thüringen, die Arbeit beginnt jetzt", sagte Kemmerich unter höhnischem Gelächter im Saal. In der Übertragung waren "Heuchler"-Rufe zu hören. "Lassen Sie uns sachorientiert für die Zukunft des Landes streiten", mahnte er darauf hin. Und weiter: "Wir haben den Anspruch, eine Regierung aus der Mitte der Gesellschaft zu bilden. Die Brandmauern zur AfD stehen. Es wird keine AfD-Ministerien, keine Zusammenarbeit und keine AfD-Politik geben. Ich bin Anti-AfD und Anti-Höcke.“

Thomas Kemmerich: "Ich bin Anti-AfD"

Direkt danach beantragte Kemmerich einen Abbruch der Landtagssitzung. Die wurde mit Stimmen der CDU und AfD angenommen. In einem Pressestatement nach der Sitzung beteuerte Kemmerich erneut: "Ich bin Anti-AfD."

Nach der überraschenden Wahl von Kemmerich werden an diesem Mittwoch nach Angaben der Staatskanzlei keine Minister ernannt. Auch eine Kabinettssitzung finde nicht statt, hieß es in der Mitteilung der Regierungszentrale in Erfurt.

Björn Höcke, (r) Fraktionsvorsitzender der AfD, gratuliert Thomas Kemmerich (l., FDP), dem neuen Thüringer Ministerpräsidenten.
Björn Höcke, (r) Fraktionsvorsitzender der AfD, gratuliert Thomas Kemmerich (l., FDP), dem neuen Thüringer Ministerpräsidenten.

© Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa

Die bisherigen SPD-Minister in der rot-rot-grünen Landesregierung räumten nach Angaben des SPD-Fraktionschefs Matthias Hey kurz nach der Wahl ihre Büros. „Wir werden keinerlei Kabinettsangebote von Herrn Kemmerich annehmen“, sagte Hey. Er schloss aus, dass die Thüringer Sozialdemokraten mit einem Ministerpräsidenten, der mit AfD-Stimmen gewählt wurde, zusammenarbeiten werden.

Während CDU-Landeschef Mike Mohring Kemmerich eine Zusammenarbeit anbot, erklärten Grüne und Linke, nicht mit der neuen Regierung zusammenarbeiten zu wollen. Insgesamt haben die Oppositionsparteien CDU, FDP und AfD im Landtag zusammen 48 Sitze und damit sechs mehr als Rot-Rot-Grün.

Kemmerich hatte noch Anfang November, gut eine Woche nach der Wahl, eine „wie auch immer geartete“ Zusammenarbeit mit der AfD ausdrücklich ausgeschlossen. Zuvor hatte die Partei sich schriftlich an die FDP gewandt.

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Heftige Reaktionen aus Berlin

FDP-Chef Christian Lindner sagte am späten Nachmittag zur Wahl von Kemmerich: "Der Landesverband handelt in eigener Verantwortung." Und weiter: "Freiheit und Weltoffenheit jenseits von AfD und Linkspartei sind unser Wählerauftrag." Der FDP-Chef sieht die Wahl als Signal, dass auch die politische Mitte im Parlament in Thüringen vertreten ist. Auch er forderte, wie Kemmerich, CDU, SPD und Grüne zur Kooperation auf. "Wenn Union, SPD und Grüne nicht kooperieren, sind baldige Neuwahlen nötig."

Lindners nüchternes Statement stand im Gegensatz zum Entsetzen, das teilweise im FDP-Bundesvorstand herrschte. Vorstandsmitglied Marie-Agnes Strack-Zimmermann twitterte: „Ich schätze Thomas Kemmerich persönlich. Ich verstehe seinen Wunsch, Ministerpräsident zu werden. Sich aber von jemandem wie Höcke wählen zu lassen, ist unter Demokraten inakzeptabel & unerträglich. Es ist daher ein schlechter Tag für mich als Liberale.“

Umgehende Neuwahlen forderte der bayerische CSU-Chef Markus Söder. Auch CDU-Politiker plädierten für Neuwahlen in Thüringen. So auch CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak. Er kritisierte die Zustimmung des thüringischen Landesverbands zur Wahl von Kemmerich (FDP) und forderte Neuwahlen.

Paul Ziemiak, CDU-Generalsekretär, fordert Neuwahlen in Thüringen.
Paul Ziemiak, CDU-Generalsekretär, fordert Neuwahlen in Thüringen.

© Kay Nietfeld/dpa

Die Wahl Kemmerichs mit den Stimmen der AfD "spaltet unser Land", sagte Ziemiak in Berlin. "Umso schlimmer ist, dass offensichtlich auch Abgeordnete der CDU Thüringen in Kauf genommen haben, dass durch ihre Stimmabgabe ein neuer Ministerpräsident auch mit den Stimmen von Nazis wie Herrn Höcke gewählt werden konnte", sagte er. Neuwahlen wären nun "das Beste". Die Wahl des Ministerpräsidenten von der FDP in Erfurt, mit den Stimmen der AfD sei keine Grundlage für „bürgerliche Politik“. Auch könne es keine Regierung und keine Zusammenarbeit mit jemandem geben, der von der AfD ins Amt gewählt worden sei.

Mehr zum Politbeben in Thüringen:

Thomas Kemmerich ist erst der zweite Ministerpräsident der FDP

Der Erfurter Politikwissenschaftler André Brodocz sagte am Mittwoch im MDR: "Das ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein Ministerpräsident mit den Stimmen der AfD ins Amt gewählt wurde."

Politiker von CDU und FDP, die kurz nach der Wahl gratuliert hatten, löschten ihre Tweets in der Folge teilweise wieder. Darunter der Jenaer FDP-Politiker Sebastian Böhme und die CSU-Politikerin Dorothee Bär.

Bodo Ramelow (Linke) ist nicht mehr Ministerpräsident von Thüringen.
Bodo Ramelow (Linke) ist nicht mehr Ministerpräsident von Thüringen.

© Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dpa

Kemmerich ist erst der zweite Ministerpräsident der FDP in der Geschichte der Bundesrepublik. Der liberale Politiker Reinhold Maier war von 1945 bis 1952 Ministerpräsident von Württemberg-Baden und dann von April 1952 bis September 1953 Regierungschef des neuen Bundeslandes Baden-Württemberg.

SPD stellt GroKo in Frage

Im Willy-Brandt-Haus kam es umgehend zu einer Dringlichkeitssitzung. In Richtung der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer wurde klargemacht, das könne so nicht stehen bleiben. „Das wird Auswirkungen haben.“

Wo es zuletzt so schien, dass das Regierungsbündnis in Berlin unter den neuen SPD-Chefs Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken dank ihres konstruktiven Kurses in ruhigeres Fahrwasser kommt, wird dies das Verhältnis nun deutlich eintrüben.

Der thüringische CDU-Landeschef Mike Mohring sei wissentlich in die Falle gelaufen, einen FDP-Mann mit den Stimmen der AfD zum Regierungschef zu wählen. Wenn die CDU derart „mit Faschisten kooperiert“, hieß es in der SPD-Zentrale, sei eine Fortsetzung der großen Koalition kaum denkbar.

Plötzlich gibt es den so lange gesuchten Anlass gerade für den linken Flügel, die ungeliebte Koalition zu kippen. Erinnert wird daran, dass die Partei als einzige Fraktion gegen Adolf Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hat– es ist einer der wichtigsten historischen Bezugspunkte der Sozialdemokraten, der Fraktionssaal im Bundestag ist nach dem damaligen Fraktionschef Otto Wels benannt, der damals in seiner berühmten Rede sagte: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“.

Daher ist man hier besonders sensibel, die SPD sieht in jeglichem Schulterschluss mit der AfD einen Schritt hin zu einer Gefährdung der Demokratie. Walter-Borjans nennt die Wahl Kemmerichs mit Hilfe von CDU- und AfD-Stimmen einen „unverzeihlichen Dammbruch“.

Sigmar Gabriel spricht von einem "historischen Bruch"

SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sieht einen „Tiefpunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte“. Die FDP lasse sich von der AfD, „die mit Höcke einen waschechten Faschisten in den eigenen Reihen hat, an die Macht wählen. Und die CDU spielt das gefährliche Spiel ohne Skrupel einfach mit“.

Ramelow war seit 2014 Regierungschef des Freistaats und der erste Ministerpräsident der Linken in Deutschland. Obwohl Ramelows Linke mit 31 Prozent die Wahl im Herbst 2019 klar gewonnen hatte, ging die Mehrheit der bisherigen Regierung von Linke, SPD und Grünen verloren.

Der Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte dem Tagesspiegel: "Das ist historischer Bruch: Zwei bürgerlich-demokratische Parteien konspirieren mit Feinden der Demokratie - der rechtsextremen Höcke-AfD. Dieses abgezockte Spiel, bei dem für CDU und FDP die Macht wichtiger ist als der Anstand, gibt die Demokratie der Lächerlichkeit preis gibt."

Linke sehen in Wahl von Thomas Kemmerich Tabubruch

Der Vorsitzende der Linken, Bernd Riexinger, bezeichnete Kemmerichs Wahl als "Tabubruch". "Wie weit sind wir gekommen, dass die FDP einen Ministerpräsidenten Kemmerich wählen lässt mit den Stimmen des Faschisten Höcke und der AfD? Das ist ein Tabubruch, der weitreichende Folgen haben wird", schrieb Riexinger in einer ersten Reaktion bei Twitter. FDP und CDU müssten jetzt einiges erklären.

Die Landes-SPD warf den Liberalen eine "Missachtung des Wählerwillens" vor. Er sei "geschockt, dass die FDP sich hergibt, Spielchen mit der AfD zu machen", sagte der bisherige Landesinnenminister Georg Maier. Die Wahl eines FDP-Ministerpräsidenten entspreche nicht dem Votum der Wähler.

Die thüringische CDU hat nach der von ihr unterstützten Wahl Kemmerichs eine Abgrenzung zur AfD gefordert. "Wir haben uns entschieden, den Kandidaten der bürgerlichen Mitte zu unterstützen", sagte CDU-Partei- und Fraktionschef Mike Mohring nach der Wahl am Mittwoch. "Entscheidend ist nun, dass Kemmerich klarmacht, dass es keine Koalition mit der AfD gibt."

Die Spitzen der AfD-Fraktion im Bundestag begrüßten die Wahl Kemmerichs als Erfolg für ihre Partei. "An der AfD führt kein Weg mehr vorbei", schrieb die Kofraktionsvorsitzende Alice Weidel am Mittwoch bei Twitter. Kofraktionschef Alexander Gauland erklärte: "Das Ausgrenzen der AfD funktioniert nicht." Die AfD wünsche Kemmerich "eine glückliche Hand." (AFP, dpa)
Korrektur: In einer früheren Version des Artikels wurde Christoph Kindervater als AfD-Politiker bezeichnet, er ist aber parteilos. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

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