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Wolfgang Merkel ist ein Politikwissenschaftler, der die Kontroverse nicht scheut und sich mit starken Thesen immer wieder in die politische Debatte einmischt.

© David Ausserhofer/WZB

Unterzeichner des offenen Briefs an Scholz: „Hass, Verzerrung, Beleidigungen“ – Forscher Merkel schildert Reaktionen

Weil er den offenen Brief gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine unterzeichnete, erlebt der Politikwissenschaftler herbe Kritik. Ein Interview.

Von Hans Monath

Wolfang Merkel (70) ist Politikwissenschaftler und war viele Jahre Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft und Demokratieforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Mitglied in der Grundwertekommission der SPD.

Herr Professor Merkel, Sie argumentieren seit Beginn der Debatte gegen deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine und haben nun den offenen Brief dazu an den Kanzler unterzeichnet. Welche Reaktionen erleben Sie?
Ich darf korrigieren: Ich argumentiere  nicht gegen jedwede Waffenlieferung, sondern gegen die eskalierende Lieferung immer schwerer Waffen. Das ist ein wichtiger Unterschied. Ein Unterschied, der auch von manchen Lesern  des „offenen Briefes“ bewusst oder unbewusst einfach eingeebnet wird. Die erste Reaktionswelle auf Twitter war Hass, Verzerrung, Beleidigungen und vor allem Falschzitate, die dann viral gingen. Es war ein Aufstand der antipluralistischen Moralisten. Später kamen auch viele zustimmende Kommentare und Aufrufe, die „minima moralia“ des Anstands und der sprachlichen Logik in der Debatte um den „offenen Brief“ zu beachten.

Was erleben andere Unterzeichner?
Sie erleben Ähnliches. Von „Wellen des Hasses“ berichtet einer der Unterzeichner. Ebenso Berichte über verfälschende Zitate, der Mehrzweckwaffe verbaler Heckenschützen im Netz. Mörder, Befürworter der Vergewaltigungen der russischen Soldateska oder auch einfach naiv, ahnungslos oder einfach ewig gestrig werden als Kommentare von den Unterzeichnern vermeldet. Erstaunlich, dass sich daran auch Journalisten mit Klarnamen beteiligten.

Haben Sie Anzeichen, dass umgekehrt auch Befürworter der Lieferung schwerer Waffen diffamiert und beschimpft werden?
Das kann ich nicht sagen. In meiner eher linksliberalen Blase geschieht das wenig. Und wenn, dann eher in zivilisierten Sprachformen. Es sind die selbsternannten Moralisten und „Helden“, die den Ton angeben.

Die Gräuel des Krieges gegen die Ukraine erschüttern die Deutschen. Die Frage, welche Schlüsse man daraus ziehen sollte,  ist sehr umstritten.
Die Gräuel des Krieges gegen die Ukraine erschüttern die Deutschen. Die Frage, welche Schlüsse man daraus ziehen sollte,  ist sehr umstritten.

© Alexei Alexandrov/AP/dpa

Woher kommt Ihrer Meinung nach diese Unversöhnlichkeit?
Wir sind eine nervöse Republik geworden. Wir übermoralisieren die politischen Debatten, mit der impliziten oder expliziten Strategie, die anderen Positionen als unmoralisch und damit als illegitim aus dem öffentlichen Diskurs hinauszudrängen. Das geschah in der Flüchtlings-, COVID-, teilweise auch in der Klimakrise. Es zeigt sich hier die rezidivierende Krankheit der gesellschaftlichen Polarisierung. Sie grenzt aus, reißt Brücken der Verständigung ein, spaltet die Gesellschaft und begrenzt implizit den Pluralismus unserer Diskurse. Das betrifft fast alle liberalen Demokratien. Polarisierung geht stets mit dem Verlust an Liberalität einher. Das ist ein demokratiefeindlicher Trend.

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Unterscheidet sich die Waffendebatte von der über Flüchtlinge und über Corona, die sogar Familien und Freundeskreise spaltete?
Nicht substantiell, nicht einmal wirklich im Ton. Die Reaktion vieler Print-Medien zum Beispiel auf den „offenen Brief“ oder Habermas` brillantem Essay war natürlich im zivilisierteren Ton, aber auch da wurde stark ad hominem geschrieben: alter Mann, ewig Gestrige, Zyniker, Naivlinge und so weiter. Es überwog der Meinungs- und Haltungsjournalismus. Der Ton wird aber von Tag zu Tag weniger polemisch und stärker verständigungsorientiert. Durch die Familien scheint mir die Bruchlinie weniger tief und seltener zu verlaufen als in der COVID-Krise. Die grundlegenden Muster sind jedoch ähnlich.

[Der Ukraine-Krieg und Berlin - immer wieder Thema in den bezirklichen Newslettern vom Tagesspiegel, kostenlos bestellen unter leute.tagesspiegel.de]

Kommen die Bundesregierung und Kanzler Olaf Scholz ihrer Aufgabe nach, die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar und engagiert über die Gründe ihrer Entscheidungen in diesem Zusammenhang aufzuklären?
Ich will nicht verhehlen, dass ich da Defizite sehe. Da müsste viel stärker eine wirkliche Debatte geführt werden. Mir scheint, dass der Kanzler oder etwa die sozialdemokratische Linke erstens den Koalitionsfrieden nicht stören wollen und zweitens Gegenpositionen zu „schweren“ Waffenlieferungen für unpopulär halten. Das müssten sie nicht.

Erklärt der Bundeskanzler seine Politik gegenüber der Ukraine den Bürgerinnen und Bürgern ausreichend? Wolfgang Merkel hat da seine Zweifel.
Erklärt der Bundeskanzler seine Politik gegenüber der Ukraine den Bürgerinnen und Bürgern ausreichend? Wolfgang Merkel hat da seine Zweifel.

© Thomas Trutschel/IMAGO/photothek

Der ARD-Deutschlandtrend zeigt, dass sich in der Bevölkerung zwei gleich große Gruppen von Befürwortern und Gegnern der Waffenlieferungen gegenüberstehen. So überlässt es der Kanzler und die SPD zu sehr den „SprecherInnen“ der beiden Koalitionspartner das Feld: dem gut erklärendem Robert Habeck steht da die begründungsfreie Apodiktik von Frau Strack-Zimmermann gegenüber.

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Auseinandersetzungen über den Einsatz militärischer Gewalt gab es mehrere in der Geschichte der Bundesrepublik, um die Wiederbewaffnung, die Nachrüstung, den Irakkrieg. Oft hat sich die Exekutive gegen weit verbreitete Kritik durchgesetzt. Könnte das hier wieder der Fall sein?
Ich sehe hier keinen Konflikt zwischen Legislative und Exekutive. Da gibt es sichtbare Mehrheiten für eine Steigerung der Waffenlieferungen. Wenn es einen Konflikt gibt, dann zwischen den politischen Entscheidungsträgern und der Hälfte der Bevölkerung, die diese Politik für zu riskant und opferreich hält – für Deutschland und die ukrainische Bevölkerung.

Hält der Krieg an und steigen die Opferzahlen des Putinschen Angriffskrieges und werden die Embargo-Maßnahmen auch bei uns spürbarer, dann könnte sich das Lager der Lieferungsskeptiker erweitern und ihre Stimmen lauter werden.

Da hilft es, dass der Bundeskanzler am Montag noch einmal klar gemacht hat, dass es keinen Automatismus von weiteren Waffenlieferungen gibt, sondern darüber die Konsequenzen abwägend von Fall zu Fall entschieden wird.

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