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Mitten in der Pandemie fand im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt eine zentrale Gedenkfeier statt, bei der Bundespräsident Steinmeier eine Rede hielt.

© Michael Sohn/POOL AP/dpa

Steinmeiers Rede zum Corona-Gedenken: Für die Gesellschaft, die wir nach der Pandemie sein wollen

Die Toten, das Virus und wir – das Pathos kam nicht aus dem staatlichen Gedenken, sondern aus einem Ereignis, das es so noch nie gegeben hat. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Wollen wir eine Kerze entzünden, so, wie es der Bundespräsident mit Hinterbliebenen von Corona-Opfern tat? Vielleicht nicht nur an einem Tag, sondern an den vielen schwierigen, die noch vor uns liegen? Mehr als ein Jahr befindet sich die Gesellschaft, befinden wir alle uns in den Fängen der Pandemie, die wahrlich „über uns hereingebrochen ist“, wie Frank-Walter Steinmeier sagt, und es geht darum, als einzelne Menschen wie als Gesellschaft nicht daran zu zerbrechen.

Darum auch war es wichtig, noch mitten in der Krise einmal innezuhalten: um uns unserer selbst zu vergewissern. Es ist doch richtig – wir Menschen sind auf einander angewiesen. Wir brauchen einander. Keiner kann ohne den anderen leben. Diese Angewiesenheit wird uns in diesen Zeiten deutlicher denn je. Wir vermissen einander – und vermissen natürlich umso mehr die, die uns die Pandemie genommen hat.

Die Unfähigkeit zu trauern ist uns Deutschen zu anderen Zeiten vorhalten worden, und immer mal wieder. Diesmal hat der Bundespräsident als oberster Vertreter unseres Gemeinwesens einen Raum für Trauer und für Gemeinsames darin geschaffen. Mag das auf manche quasi- oder pseudoreligiös gewirkt haben – das Pathos des Augenblicks kam nicht aus dem staatlichen Gedenken, sondern aus einem Ereignis, das es so noch nie gegeben hat. Der Präsident hat qua Amt das und die Folgen für den Staat anerkannt, den er repräsentiert. Aber dabei als Mensch zu Menschen geredet, im Angesicht der hohen Politik in die Polis hinein, in unser Gemeinwesen, das nicht ohne Grund so benannt wird.

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Dahinter steht dieser Gedanke: Ein Virus befällt die Welt mit aller Macht – und darf doch nicht die Macht über uns erlangen. Diese Form von Durchdringung der Gefahr ist gegenwärtig die Anforderung an jeden Einzelnen von uns. Corona darf die Menschlichkeit, die Mitmenschlichkeit nicht infizieren. Weil wir uns sonst – womöglich für alle Zeiten – verlieren. Das Ich-Ideal einer sich modern gerierenden Gesellschaft muss dafür überwölbt werden vom Wir.

Also muss schon jetzt, mitten im Kampf gegen Corona, begonnen werden, die tiefen Wunden zu heilen. Gerade die staatliche Seite muss sich darum bemühen. In dem Sinn hat der Präsident auch der Politik einen Dienst erwiesen.

Der Streit reibt uns wund, sagte Steinmeier. Nicht nur die Politik

Du bist nicht allein, war eine der Botschaften von Steinmeier, die zu hören einen ersten, gelinden Trost spendet. Vielleicht, hoffentlich; denn viele sind der Sache müde, und viele werden wütend. Der Streit reibt uns wund, sagt der Präsident auch – aber eben uns alle, nicht die Politiker allein.

Die Inzidenzen steigen, die Intensivstationen werden voller. Die Belastungsgrenze kommt näher und näher. Was ist der richtige Weg? Womöglich findet den besser, der oder die sich tatsächlich einen Moment zurücknimmt, zurücktritt von der eigenen Position, immer wieder aufs Neue eine gemeinsame sucht.

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80 000 Menschen sind allein in unserem Land an und mit Corona gestorben, drei Millionen weltweit. Tag für Tag sterben weitere. Hinter den Zahlen die Schicksale zu sehen, das war der Sinn des Gedenkens. Weil das den Blick fürs Wesentliche schärft. Wir erkennen das Schicksalhafte. Wir dürfen in dieser globalen Katastrophe nicht versagen. Auf vielfältige Weise: Wir dürfen den Trost nicht versagen, und wir dürfen im Handeln nicht versagen.

In Abwandlung des Satzes eines amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy: Frage nicht nur, was der Staat für dich tun kann – frage dich, was du tun solltest. Diese Frage führt über Grenzen hinweg, von Parteien wie von Ländern. Gemeinsames Handeln ist kein nationaler Anspruch allein, lange nicht mehr, und nie mehr, wenn die Pandemie richtig verstanden wird.

So gesehen wird die Krise zur Charakterfrage

„Rituale des Trauerns geben Halt, spenden Trost und stiften Sinn“, sagt Steinmeier. In der Pandemie ist Gemeinschaft schwierig. Umso wichtiger ist es, das Gemeinsame zu bedenken, ja auch herbeizudenken. Da wird das gute Wort der Arm, der uns hält. Und es führt zur guten Tat für die in Not Geratenen. Solidarität ist mehr als ein Wort. Dazu kommt der Anspruch, wahrhaftig zu sein. Es ist, wie der Bundespräsident sagt: Die Einschränkungen bringen auch Leid, Einsamkeit, Verlorenheit.

So gesehen wird die Krise zur Charakterfrage. Charakter, Anstand, Würde sind die politischen Kategorien zumal dieser Tage. Wer sie jetzt infrage stellt oder relativiert, hat in der Politik nichts verloren. Nicht der auf sich selbst ausgerichtete Zeitgeist darf regieren, sondern wer sich im Angesicht von Krankheit und Tod beständig selbst darauf hin befragt, ob das, was er tut, Gemeinsinn stiftet. Im ganzen Land gedenken Menschen der Toten, zünden jeden Tag Kerzen an zum Zeichen der Mitmenschlichkeit. Auf dass uns allen ein Licht aufgehe – für die Gesellschaft, die wir nach der Pandemie sein wollen.

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