zum Hauptinhalt
Ein Polizeibeamter vor der Gartenlaube, wo der Haupttäter Teile seiner Server-Anlage unterbrachte.

© Guido Kirchner/dpa

Lernt, Kindern zu helfen: Der Missbrauch in Münster offenbart Fehler im System

In jeder Schulklasse sitzt schätzungsweise ein Kind, das sexuell missbraucht wird. Doch es fehlt an Basiswissen über die Symptome von Missbrauch. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Abscheu, Entsetzen und Wut sind die ersten Reaktionen auf die Taten, die in Münster ans Licht kommen. Erwachsene haben sich systematisch an Kindern vergangen, gezielt und grausam. Ein Hightech-Silo in einem Keller diente ihnen als professioneller Produktionsraum für Videos.

Sie stellten her, was landläufig „Kinderpornografie“ genannt wird. Diese irreführende Bezeichnung wird zunehmend durch das Wort „Missbrauchsabbildungen“ ersetzt, das den Tatbestand ebenfalls nur vage trifft. Gerade im Fall Münster scheint ein Begriff wie „Missbrauch“ unzureichend.

Genauer müsste es heißen: „Sexualisierte Folter verübt durch Erwachsene an Minderjährigen zum Zweck der Befriedigung von Machtbedürfnissen und des Erzielens finanzieller Profite.“

Alle paar Monate entdecken Fahnder Hunderttausende solcher Abbildungen, deren Besitz und Vertrieb kriminell ist. Und es sind eben nicht nur virtuelle Bilder im Cyberspace.

Hergestellt werden sie so analog wie irgend denkbar: Mit echten, lebendigen Kindern, Jungen und Mädchen, die vor laufender Kamera für ihr Leben beschädigt werden. Erwachsene, die Ohnmachtsgefühle kompensieren und oft früher selber Opfer waren, berauschen sich dabei an Macht über die Wehrlosesten.

Basiswissen über Symptome

Aber Abscheu, Entsetzen und Wut reichen als Reaktion nirgends hin. Im Zweifel dienen sie eher der Abwehr – hauptsächlich der Abwehr des tabuisierten Wissens, dass nicht der fremde Mann am Spielplatz der typische Täter ist, sondern mehr als 90 Prozent der Täter und Täterinnen aus dem Nahfeld kommen, aus Familien in allen Milieus.

Abwehr steckt auch im Skandal hinter dem Skandal: Denn wieder, wie in vielen Fällen, wie in Staufen oder Lügde, waren Jugendämter involviert, besaßen Informationen sogar über Pädokriminalität der Beteiligten und haben dennoch nichts verhindert. So wie meist Verwandte, Nachbarn, Freunde, Lehrer etwas ahnen ohne nachzufragen, ohne einzugreifen oder zu melden.

[In unseren Leute-Newslettern berichten wir wöchentlich aus den zwölf Berliner Bezirken. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen: leute.tagesspiegel.de]

Überall, wo mit Kindern umgegangen wird, muss endlich Basiswissen über Symptome, Ahndung und Folgen von Missbrauch und Misshandlung zur Voraussetzung werden. Das gilt für Legislative wie Exekutive, für Jugendämter, Bewährungshilfe, Heilberufe, für Bildungssektor und Sportvereine.

Tiefergehende Kenntnisse sollte vor allem in der Pädagogik und an Familiengerichten Standard sein, wie Kenntnis zu kindlichen Entwicklungsphasen und zur Täterpsychologie. Kinderschutz muss fundierter werden, besser vernetzt, strukturell klarer.

Experten beklagen seit Langem „ungeklärte Hilfeziele und Verantwortungsdiffusion“ und die „Marginalität des Kindes im Kinderschutz“. Bundesweite Standards der Jugendämter fehlen, die föderale Hilfslandschaft ist inkonsistent. Kinderschutz, so die Forderung der Fachwelt, gehört in alle Curricula der Hochschulfächer Jura, Medizin, Erziehungswissenschaften und Sozialarbeit.

"Zweite Chance" mit fatalen Folgen

Doch Gerichte geben bisher sogar Vätern oder Müttern, die wegen Pädokriminalität vorbestraft sind, „eine zweite Chance“, was fatale Folgen haben kann, wie im Fall Staufen, wo Mutter und Lebensgefährte den kleinen Sohn im Internet als Sexspielzeug anboten.

Die eigenen Eltern seien „noch immer das Beste fürs Kind“ heißt es, das sage der gesunde Menschenverstand. Leider ist der Spruch in vielen Fällen weder gesund, noch menschlich, noch verständig. Der juristische Experte Ludwig Salgo nennt den biologistischen Ansatz „friendly parent illusion“.

Da gilt die Aufmerksamkeit erst in zweiter Linie dem Kind, das ins Zentrum gehören sollte. In jeder Schulklasse, so wird geschätzt, sitzt mindestens ein Kind, das sexuell missbraucht wird. „Münster“ wirft nur ein Blitzlicht aufs Geschehen.

Ein Anfang wäre gemacht, wenn an jeder Kita und Schule altersgerechte Informationen darüber vermittelt werden, was Grenzverletzungen sind und wo es Hilfe gibt. Missbrauch geschieht zwar privat. Er ist aber keine Privatsache, er ist eins der schwersten Verbrechen überhaupt.

Zur Startseite