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Julia Werner-Schwarz mit einem Foto von Constantin.

© Sven Darmer

Weihnachten ohne Constantin: Eine Mutter trauert um ihren Sohn, der vom Lkw überrollt wurde

Wenn Julia Werner-Schwarz Weihnachten feiert, fehlt einer: ihr Sohn Constantin. Er wurde von einem Lkw überfahren. Wie kann das Leben weitergehen?

Sie feiern Weihnachten wieder ohne Baum. Es würde sich falsch anfühlen, einen zu haben, ohne dass Constantin beim Schmücken hilft, das finden auch seine beiden Schwestern. Also wird es besinnlich. Traurig auch, aber nicht ganz so schlimm wie im vergangenen Jahr, vermutet Julia Werner-Schwarz.

Sie werden viel Zeit miteinander verbringen und mit denen, die ihnen lieb sind. Also mit denen, die sie aus dem Abgrund gerettet haben, der sich am 13. Juni 2018 auftat. Constantin hatte bei den Großeltern übernachtet, Julia Werner-Schwarz holte ihn ab und radelte mit ihm zur Schule: er voraus, sie direkt dahinter – so, wie es die Polizisten bei der Verkehrserziehung erklärt hatten und wie es vernünftig schien. „Consti war ein Kind, das gehört hat“, sagt seine Mutter. „Hätte ich ,Stopp!‘ gerufen, hätte er sofort angehalten.“

Aber es war keine Zeit mehr zum Rufen, als sie an der Einmündung der Nauener Straße in den Brunsbütteler Damm bei Grün losfuhren und neben ihnen der Lkw – wohl bei Rot-Gelb – ohne anzuhalten rechts abbog und Constantin seitlich rammte. Er überrollte ihn mit dem Hinterrad und blieb erst stehen, als Menschen schrien und gestikulierten und an das Fahrzeug hämmerten.

Vier Mal ist der Prozess gegen den Fahrer verschoben worden. Viel Zeit für die Familie, sich vorzubereiten. Zu viel Zeit. „Wir waren aufs Schlimmste gefasst“, sagt die Mutter und meint die in ähnlichen Fällen üblichen Geldstrafen. In ihrem Fall befand das Gericht die Schuld des Lkw-Fahrers für so groß, dass es härter urteilte: sechs Monate Haft, ausgesetzt zu zwei Jahren auf Bewährung, und 500 Euro. Diese Präzision ist Julia Werner-Schwarz wichtig, denn „sechs Monate auf Bewährung“ klingt harmloser.

Die Unfallstelle (hier ein Bild aus der Zeit direkt nach Constantins Tod) wurde mittlerweile umgebaut.
Die Unfallstelle (hier ein Bild aus der Zeit direkt nach Constantins Tod) wurde mittlerweile umgebaut.

© Kai-Uwe Heinrich

Es gibt keine vernünftige Antwort

Welche Strafe soll dem Tod eines Kindes schon angemessen sein, das noch leben würde, wenn der Lkw-Fahrer während mindestens zehn langer Sekunden mal in seine Außenspiegel geschaut hätte? Julia Werner-Schwarz hat sich in den eineinhalb Jahren seit dem Unfall damit abgefunden, dass es darauf keine vernünftige Antwort gibt.

Hätte sie die Wahl, hätte sie dem Lkw-Fahrer – diesem Lkw-Fahrer, der sowohl vor als auch nach dem Tod von Constantin je einmal als Rotfahrer sowie einmal als Raser erwischt worden ist – zumindest den Führerschein weggenommen und ihn ins Gefängnis geschickt, wenigstens für einen Monat.

Lange vor dem ersten Prozesstermin hatten sich die Eltern beim Tagesspiegel gemeldet, nachdem sie die Geschichte von Beate Flanz gelesen hatten, die einen ähnlichen Unfall mit schwersten Verletzungen überlebt hat. Damals wollten sie vor allem vom Versagen der Notfallhilfe erzählen, die sie so dringend gebraucht hätten, als ihre Welt zusammenbrach: überforderte Seelsorger, monatelanges Warten auf eine Traumatherapie, vergebliches Abtelefonieren von Psychologen, bürokratische Krankenkassen, unbeantwortete Briefe an Behörden.

Jetzt, nach dem Urteil, haben sich die Eltern wieder gemeldet. Wenn sie schon ihr eigenes Kind nicht mehr retten können, wollen sie wenigstens andere vor solchem Unglück bewahren: indem sie öffentlich Druck aufbauen auf Politik und Behörden und indem sie die Allgemeinheit mahnen, ein bisschen mehr auf sich und die anderen Verkehrsteilnehmer aufzupassen. Sie sind nicht naiv; sie haben mehrere Lkw-Fahrer im Verwandten- und Freundeskreis. Sie wissen aus erster Hand, wie schwer es ist, im Stadtverkehr immer die Übersicht zu behalten. Aber sie wissen auch, dass man als Berufskraftfahrer jahrzehntelang unfallfrei und ohne Rotlichtverstöße unterwegs sein kann.

Der Kampf um mehr Verkehrssicherheit ist mühsam

Vor ein paar Tagen haben sie Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) per Brief um einen Gesprächstermin gebeten. Sie würden ihm gern persönlich erklären, wie viel Leid Abbiegeassistenten für Lastwagen verhindern könnten, wenn sie nicht erst 2023 vorgeschrieben würden und wenn die Nachrüstung Pflicht wäre.

Wie mühsam der Kampf um mehr Verkehrssicherheit auch im rot-rot-grün regierten Berlin ist, zeigen nicht nur die seit Jahren steigenden Unfallzahlen, sondern auch die Abläufe in der Koalition: Unter dem Eindruck auch von Constantins Tod hatte die SPD im November 2018 einen Antragsentwurf formuliert, der die Trennung der Grünphasen für Geradeausverkehr und Abbieger an allen dafür geeigneten Kreuzungen – also solchen mit separaten Abbiegespuren – vorsah. Auf Nachfrage sagte SPD-Verkehrsexperte Tino Schopf kürzlich: „Der Antrag liegt bei den Linken und den Grünen und wird dort hoffentlich diskutiert.“

Wird er? Die Linken signalisieren inhaltliche Zustimmung und berichten von einem ganzen Paket zum Thema Kreuzungssicherheit, das geschnürt werde. Grünen-Verkehrspolitiker Harald Moritz erklärt: „Die Formulierung war so, als wären die getrennten Grünphasen das Allheilmittel.“ Man habe eigene Vorschläge zu Kreuzungsdesigns ergänzt, der gemeinsame Antragsentwurf zu mehreren Aspekten „ist in der Koalition zur Abstimmung“. Also noch nicht auf dem Weg ins Abgeordnetenhaus, nach 13 Monaten. Für die – hypothetische – Umprogrammierung der Ampeln hatte die Verkehrsverwaltung kürzlich fünf bis zehn Jahre prognostiziert. Der Umbau Hunderter Kreuzungen, soweit überhaupt realistisch, dürfte noch viel länger dauern.

Obwohl die meisten schweren Unfälle in Berlin beim Abbiegen geschehen, bleibt die Trennung der Grünphasen seit Jahrzehnten die Ausnahme – weil die Wartezeiten sich verlängern und vor allem Fußgänger womöglich dazu verleitet würden, bei Rot zu gehen. Julia Werner-Schwarz sagt dazu: „Wer bei Rot läuft, ist selbst schuld. Das ist der große Unterschied.“

Regelmäßig wäscht sie die vom Verkehr verdreckten Kuscheltiere

Die Kuscheltiere an der Unglücksstelle. Julia Werner-Schwarz wäscht sie regelmäßig.
Die Kuscheltiere an der Unglücksstelle. Julia Werner-Schwarz wäscht sie regelmäßig.

© Stefan Jacobs

Im März will Constantins Mutter wieder anfangen zu arbeiten. Sie habe inzwischen genug Kraft dafür, sagt sie. Ihr Mann hat sich als Selbstständiger schon dazu gezwungen, als es noch kaum auszuhalten war; sie brauchen ja das Geld.

Julia Werner-Schwarz schaut mindestens einmal pro Woche an der Unfallstelle vorbei, regelmäßig wäscht sie die vom Verkehr verdreckten Kuscheltiere. Wenn sie kommt, hat manchmal schon jemand anderes frische Blumen hingestellt oder einen Kartengruß hinterlassen. Der ADFC kümmert sich um Constantins Rad, das als Geisterrad weiß angestrichen am Ampelmast lehnt. Es ist das Rad, auf dem er als Kitakind fahren gelernt hat. Als er starb, ging er in die zweite Klasse. Einladungen für die Feier zum achten Geburtstag waren schon verteilt.

Auf einem Tischchen im Wohnzimmer steht neben Engel und Kerze ein Urlaubsfoto, auf dem er zufrieden und ein bisschen belustigt durch seine Brille schaut, deren Türkis zum Dino-Basecap passt. Ein aufgewecktes Kind, wie man so sagt.

Das Foto hängt auch am Ampelmast an der Unfallstelle. Dort wurden kurz vor Weihnachten der verbreiterte Radweg mit nach vorn verlegter Haltelinie fertiggestellt und die Grünphasen für Abbieger und Geradeausverkehr getrennt. Mit Standardmitteln wurde die Kreuzung so verändert, dass Constantin an jenem Morgen nichts passiert wäre. Julia Werner- Schwarz muss damit leben, dass es so einfach war, aber erst nach dem Tod ihres Kindes getan wurde. Die Bauleute haben vorsichtig gearbeitet, sagt sie: Keinem Kuscheltier wurde ein Haar gekrümmt.

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