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Auf den Stufen zum Eingang der Hausotter-Grundschule in Reinickendorf steht eine Kerze mit der Aufschrift "Stoppt Mobbing".

© Paul Zinken/dpa

Update

Suizid in Berlin: Was über den Tod des elfjährigen Mädchens bekannt ist

Der Tod einer Berliner Grundschülerin wirft Fragen auf: Hat die Elfjährige Mobbing an ihrer Schule nicht mehr ertragen? Das Problem ist weit verbreitet.

Nur in Umrissen ist bisher publik, wie es in der vergangenen Woche zum Tod einer elf Jahre alten Berliner Schülerin gekommen ist. Das Mädchen ging auf die Hausotter-Grundschule im Bezirk Reinickendorf. Es soll sich vermutlich am Dienstag nach der Schule in seinem Zimmer so schwer verletzt haben, dass es im Krankenhaus an den Folgen der Verletzungen starb. Das Landeskriminalamt hat ein Todesermittlungsverfahren begonnen, das bestätigte eine Sprecherin der Polizei am Montag. Auch die Staatsanwaltschaft teilte mit, die Obduktion des Mädchens solle "zeitnah" eingeleitet werden, wann genau mit Ergebnissen der Untersuchung zu rechnen ist, ist den Behördensprechern zufolge noch unklar. Nachdem die 500 Kinder der Hausotter-Grundschule am Donnerstag früher nach Hause geschickt worden waren, wurde bekannt, dass das Mädchen in der Schule massiv gemobbt worden war.

Welche Vorwürfe werden der Schule gemacht?

Es waren der Anti-Mobbing-Trainer Carsten Stahl und der ehemalige SPD-Abgeordnete Thorsten Karge, die den Tod des Mädchens bekannt machten und von massiven Mobbingangriffen auf das Kind berichteten. Stahl zufolge kennen sich Karge und er von einer Anti-Mobbing-Veranstaltung in Reinickendorf. Zusammen mit Elternvertretern regte Stahl eine Mahnwache für den Samstagabend an. Zu der Versammlung von etwa 150 Menschen vor dem Schulgebäude am Hausotterplatz in Reinickendorf kamen auch Mitglieder der Gesamtelternvertretung.

Sie werfen der Schulleitung und dem Kollegium vor, die seit Jahren bestehende Mobbing-Problematik an der Schule nicht ernst genug genommen zu haben. Elternvertreter Daniel Richter sagte, sein Sohn habe seit Jahren von Prügeleien und Gewalt zwischen den Kindern berichtet. Auch sein Sohn sei schon zum Opfer solcher Auseinandersetzungen geworden. Wenn Mitglieder der Gesamtelternvertretung das Problem in der Schule ansprachen, wurde es „immer verharmlost“. Dabei gebe es an der Schule sogar Probleme mit einer Lehrerin, gegen die zwei Strafanzeigen wegen Körperverletzung gestellt worden seien.

Elternvertreterin Jessica Bittner berichtete Ähnliches. Ihr Sohn habe "jeden Tag" von "Kloppereien" erzählt und von Beschimpfungen. Inzwischen seien die Probleme „extrem“. Sie würde ihren Jungen gern von der Schule nehmen, doch seien sie und ihr Mann berufstätig. "Wo soll mein Sohn denn allein hinlaufen?" sagte sie mit Hinweis darauf, dass es in der Nähe ihrer Wohnung keine andere Grundschule gebe. Die Schulleitung habe zwar "vieles in Angriff genommen", was an der Schule problematisch sei, doch fehle es den Bemühungen manchmal an Ernsthaftigkeit, sagt Elternvertreterin Bittner.

Was sagen die Schulleiterin und Vertreter der Berliner Bildungsverwaltung?

Schulleiterin Daniela Walter nahm ebenfalls am Samstagabend an der Mahnwache vor ihrer Schule teil. "Entsetzlich" sei der Tod der Schülerin, sagte sie. "Wir sind bei den Eltern." Sie wies allerdings den Vorwurf zurück, dass sich die Schule um die Mobbing-Problematik nicht kümmere. "Wir haben Konflikte", sagte Daniela Walter. Doch seien ihre Lehrerkollegen, die Schulsozialarbeiter und sogar der Hausmeister immer ansprechbar, wenn es Streit gebe. "Bei uns kümmern sich alle", sagte die Schulleiterin. "Wir sind eine Schule."

An der Schule sind Maßnahmen geplant, damit die Schülerinnen und Schüler den Tod ihrer Mitschülerin verarbeiten können. Dirk Wasmuth, Referatsleiter der Bildungsverwaltung für den Bezirk Reinickendorf sagte, es werde ein Trauerraum eingerichtet. Außerdem würden Schulpsychologen die Kinder und die Kollegen in der Wochen nach den Winterferien begleiten. Schulleiterin Walter wies darauf hin, dass alles getan werde, damit die Schwester des toten Mädchens weiter auf die Schule gehen könne.

Was ist "Mobbing" und worin liegt das Problem?

Verspotten, drangsalieren, hänseln, schikanieren, beschimpfen, schubsen, lächerlich machen, prügeln – Mobbing kommt in den unterschiedlichsten Formen und Intensitäten vor. Schon damit beginnt die Problematik. Fachleute unterscheiden (dem Internetlexikon Wikipedia zufolge) zwischen körperlichen, verbalen und relationalen Formen des Mobbings. Die letztgenannte Form zielt auf die Zerstörung sozialer Bindungen des Mobbingopfers – das "Herausekeln, Ignorieren, Ausschließen aus sozialen Gruppen".

Mit der Verbreitung des Smartphones und der sozialen Netzwerke und Medien kam das "Cybermobbing" dazu, sozusagen die ins Internet – und in die Freizeit – erweiterte Drangsalierung durch Beleidigungen, Beschimpfungen, die Verbreitung von Gerüchten oder Lügen und – wenn vorhanden – Fotos oder Foto-Fälschungen.

Der schwedisch-norwegische Psychologe Dan Olweus gehört zu den Begründern der Mobbing-Forschung. Er unterscheidet mehrere Opfertypen. Mobbing-gefährdet sind vor allem Kinder, die kleiner oder schwächer als der Durchschnitt sind, die übergewichtig sind oder ängstlich und schüchtern. Auch die Religionszugehörigkeit kann ein Anlass für Mobbing sein. Weitere typische Mobbing-Opfer können Kinder sein, weil sie sozial nicht akzeptierte Merkmale haben, zum Beispiel ärmlich aussehen, weil sie überbehütet sind – oder weil sie sich aggressiv verhalten.

Einer der wenigen Umfragen zum Mobbing zufolge sagten mehr als 30 Prozent der Elf- bis 13-jährigen Schüler, sie seien schon mal „online beleidigt“ worden. Bei den 14- bis 16-jährigen sagten dies über 60 Prozent (nachzulesen auf der Internetseite www.stop-cybermobbing.com).

Die Problematik beim Mobbing beginnt Experten zufolge damit, dass Kinder, zumal wenn sie schüchtern sind, sich ihren Eltern nicht unbedingt gleich anvertrauen, wenn sie in der Schule – oder schon in der Kita – drangsaliert, bloßgestellt und ausgegrenzt werden. Tun sie es doch, reagieren Eltern leicht falsch. Sie fordern ihre Kinder auf, das Ganze nicht so ernst zu nehmen oder nicht so empfindlich zu sein – was dazu führt, dass Kinder sich in ihrer Not allein gelassen fühlen.

Im Internetzeitalter ist eine Mobbing-Dimension hinzugekommen: Gemobbte Kinder – und Jugendliche – leiden nicht bloß in der Schulzeit; sie müssen fürchten, online weiter verspottet und lächerlich gemacht zu werden. Sie werden gemobbt, solange sie online sind. Das ist gewissermaßen Mobbing ohne Ende.

Der Anti-Mobbing-Coach Stahl wies während der Mahnwache die Eltern darauf hin, dass sie sich für das interessieren müssten, was ihre Kinder mit ihren Smartphones machten, was sie schrieben, was sie sähen. Und er forderte sie auf, jedes Anzeichen von Mobbing ernst zu nehmen. Dazu gehören gerade bei schüchternen Kindern Verhaltensveränderungen, die schon mit einem veränderten, vielleicht umständlicheren Schulweg anfangen können und beim Bettnässen enden.

Wie geht die Berliner Politik mit dem Thema Mobbing um?

Stahl wirft der Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres seit Jahren vor, das Mobbing-Problem an Berliner Schulen komplett zu unterschätzen und viel zu wenig dagegen zu tun. Tatsächlich ist der aus dem Privatfernsehen bekannte Ex-Detektiv seit fünf Jahren in der ganzen Bundesrepublik unterwegs, um an Schulen und in Stadthallen sein Anti-Mobbing-Training anzubieten und auf eine sehr emotionale Art Schüler zum Reden darüber zu bringen.

Scheeres kündigte an, "den Fall" des Reinickendorfer Mädchens „umfassend“ aufzuarbeiten. Sie setzt auf die Ausstattung der Schulen mit Sozialarbeitern und auf die Schulpsychologen in den Bezirken. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller sagte, er sei „sehr betroffen vom Tod der Schülerin“ und versprach Aufklärung.

Gibt es bundesweite Reaktionen?

Bundesfamilienministerin Franziska Giffey verweist auf das Programm Anti-Mobbing-Profis“, das sie vor knapp einem Jahr gestartet hat. „Damit haben wir mehr als 200 Respekt-Coaches an Schulen im ganzen Bundesgebiet geschickt, die helfen, Hass und Gewalt einzudämmen und konkret etwas gegen Mobbing zu tun“, sagte Giffey weiter. Anlass für die Erfindung des Programms waren mehrere Fälle von religiösem Mobbing. Opfer waren jüdische Schüler und junge Menschen.

Stahl verweist in dem Zusammenhang auch auf den Amoklauf eines Münchner Jugendlichen im Juli 2016. Der Todesschütze David S. soll lange gemobbt worden sein, bevor er loszog, um in einem Einkaufszentrum neun Menschen zu erschießen. Allerdings soll David S. auch extremistische politische Ansichten gehabt haben.

Der familienpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Marcus Weinberg, fordert verstärkte Anstrengungen gegen Mobbing an Schulen. "Das Problem wird ernster genommen als vor 20 Jahren, aber noch lange nicht ernst genug", sagte der CDU-Bundestagsabgeordnete und Ex-Lehrer dem Tagesspiegel. Die psychische Belastung von Kindern, die Opfer von Mobbing werden, sei dramatisch. Eltern und Lehrer müssten sich ebenso wie Politik und Schulverwaltung ihrer Verantwortung gegenüber betroffenen Kindern bewusst sein. "Wir dürfen das Problem nicht tabuisieren oder herunterspielen." Weinberg plädierte dafür, Hilfsmaßnahmen gegen Mobbing an Schulen weiter auszubauen.

Hilfsangebote

Haben Sie dunkle Gedanken? Wenn es Ihnen nicht gut geht oder Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie sich melden können.

Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.

Weiterhin gibt es von der Telefonseelsorge das Angebot eines Hilfe-Chats. Außerdem gibt es die Möglichkeit einer E-Mail-Beratung. Die Anmeldung erfolgt – ebenfalls anonym und kostenlos – auf der Webseite. Informationen finden Sie unter: www.telefonseelsorge.de

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