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Miroslav hat sich zu einem Hof in Polen bringen lassen. Die Versuchungen des Stadtlebens sind hier sehr weit weg.

© Michael Graupner

Obdachlose in Berlin: Miroslav will nach Hause

Miroslav hat genug vom Leben auf Berlins Straßen. Er geht zurück in die Heimat. Die polnische Organisation „Barka“ hilft Männern wie ihm, neu anzufangen.

Anfang November, als sich die ersten kalten Herbstnächte über die Stadt legten, sagte sich Miroslav: Vier Jahre auf den Straßen Berlins sind genug. Miroslav, der seinen vollständigen Namen nicht nennen möchte, rief den Sozialarbeiter Wojciech Greh an und sagte ihm: „Wojciech, ich will zurück nach Polen.“

Nun sitzen beide in einem weißen Mazda, Greh fährt die Autobahn in Richtung Posen entlang. Miroslav sitzt auf der Rückbank, gräbt seinen kahlgeschorenen Kopf in seine faltigen Hände und blickt auf die platte Landschaft seiner polnischen Heimat. Es tut gut, wieder hier zu sein.

Es war vor einem Jahr, als der Bezirksbürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), einen harten Kurs gegen Obdachlosigkeit einschlug: Er ließ Obdachlosenlager im Tiergarten auflösen und drohte, aggressive osteuropäische Wohnungslose abzuschieben. Die öffentliche Diskussion hat sich seither beruhigt – obwohl die Zahl der Obdachlosen nicht zurückgegangen ist. Schätzungsweise acht- bis zehntausend von ihnen leben in Berlin, die polnische Botschaft vermutet, dass gut zweitausend darunter aus Polen stammen. Um diese Zahl zu reduzieren und den Obdachlosen einen Weg zurück in die polnische Gesellschaft zu ermöglichen, hat die Botschaft die Hilfsorganisation „Barka“ engagiert. Berlins Senat ist an dem Projekt bisher nicht beteiligt.

Von der Baustelle auf die Straße

Wojciech Greh ist einer von zwei Sozialarbeitern, die für Barka in Berlin tätig sind. Seit September gehen sie durch die Straßen, sprechen polnische Obdachlose an und versuchen, sie zu einer Rückkehr zu bewegen. Miroslav ist bereits der sechzehnte Rückkehrer. Er war 2014 nach Berlin gekommen. Damals konnte er in Polen die Schulden bei der Bank nicht mehr begleichen, hier arbeitete der gelernte Tischler schwarz auf einer Baustelle. Doch nach zwei Monaten, als der Arbeitgeber immer noch kein Geld gezahlt hatte, wurde er gekündigt. Miroslav landete auf der Straße.

Eine typische Geschichte

Das sei eine typische Geschichte, sagt Greh. Polen und andere Mittel- und Osteuropäer werden als billige Arbeitskräfte illegal beschäftigt, irgendwann kriegen sie keinen Lohn mehr, zurück nach Polen wollen sie aber nicht. „Die Scham der Rückkehr ist zu groß“, sagt er. Außerdem können die Männer sich in Berlin frei bewegen, in Notunterkünften kriegen sie einen Schlafplatz, eine warme Mahlzeit.

Viele fangen an zu trinken, nehmen harte Drogen. Körper und Geist bauen rapide ab. Auch Miroslav hat getrunken, vielleicht sieben Bier am Tag, harten Alkohol hat er gemieden. Er schlief in Parks oder Notunterkünften, sammelte Flaschen, seinen festen Platz zum Betteln hatte Miroslav vor dem Ullrich-Markt am Bahnhof Zoo. Dort saß er jeden Morgen, vor ihm ein gelber Teddybär.

„Ich war überrascht, dass er sich jetzt entschieden hat“

Heute Morgen hat ihn Sozialarbeiter Greh von einer Unterkunft an der Frankfurter Allee abgeholt. „Ich war überrascht, dass er sich jetzt entschieden hat“, sagt Greh. Vor ein paar Wochen nämlich hatte Miroslav es noch abgelehnt, nach Polen zurückzukehren. Nun sagt er: „Das Leben auf der Straße ist schwerer geworden.“ Konkurrenz und Aggressivität unter den Obdachlosen hätten zugenommen, zudem naht der Winter. Miroslav wird im Januar sechzig. „Dziadek“ nennen die anderen ihn nur – Opa. Mit ihm habe sich keiner angelegt, vor ihm hatten die anderen Respekt, sagt er ein wenig stolz. Was willst du in Polen, Polen ist scheiße, hätten ihm einige gesagt. „Ich will doch nur ein gesundes Leben führen“, erwiderte Miroslav.

Lange war unklar, wann Barka in diesem Jahr die Arbeit aufnehmen könne. Schließlich genehmigte der polnische Senat nur 37 500 Euro statt der beantragten 150 000 Euro, statt sechs sind es zwei Sozialarbeiter. Und das alles nur bis Ende des Jahres. Das Besondere an der Organisation: Wojciech Greh arbeitet zusammen mit einem ehemaligen Obdachlosen. Mit dessen Erfahrungen auf der Straße wollen die Sozialarbeiter gemeinsam Vertrauen aufbauen.

Gemeinsamkeit als Grundpfeiler

Gemeinsamkeit ist einer der Grundpfeiler der 1989 in Posen gegründeten Organisation. Der Psychologe Tomasz Sadowski hatte zusammen mit seiner Frau und 25 Obdachlosen einen verfallenen Bauernhof in einen autarken Landwirtschaftsbetrieb verwandelt. Die Organisation, die sich überwiegend aus staatlichen Mitteln und europäischen Zuschüssen finanziert, wird nun von den drei Töchtern geführt. Barka hat auch in Großbritannien, den Niederlanden und Island Stellen eröffnet. Nun also Berlin. „Der Bedarf ist sehr groß“, sagt Ewa Sadowska, die das internationale Büro in Dublin leitet.

Die große Herausforderung für die oftmals alkoholabhängigen Obdachlosen ist eine Grundbedingung von Barka: Wer in die Gemeinschaft aufgenommen werden will, muss trocken sein. Oder zumindest im Entzug. Alkohol ist in den Einrichtungen verboten. Meistens sind das Wohnhäuser in ländlichen Gegenden. Alte und junge Männer wohnen hier, auch einige Familien. Die Obdachlosen sollen mit einfacher Landarbeit wieder lernen, Verantwortung zu übernehmen. Zudem betreibt die Organisation ein Netzwerk von Ausbildungseinrichtungen. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, die Bewohner können selbst ihre Anführer bestimmen. So versucht Barka, die Obdachlosen wieder aufzufangen, ihnen die Scham zu nehmen. Es soll kein Leben unter Verlierern sein.

„Wir dachten zunächst, es sei Art eine Sekte“

Für Berliner Organisationen, die sich um Obdachlose kümmern, war das anfangs ungewohnt. „Wir dachten zunächst, es sei Art eine Sekte“, sagt Zuza Maczynska von „Gangway“, einem Straßenarbeiter-Verein. Mit Mitarbeitern des Bezirksamtes Mitte und einer anderen Sozialarbeiterin konnte sie sich vergangene Woche in Polen davon überzeugen, dass dies nicht der Fall ist. Dennoch gibt es Unterschiede in der Art, wie gearbeitet wird: Die meisten Berliner Organisationen betreiben akzeptierende Sozialarbeit, so Maczynska. Sie wollen die Leute nicht zu etwas drängen, sondern sie selbst über ihr Leben entscheiden lassen. Barkas Ansatz ist ein anderer.

Mittlerweile ist Miroslav auf dem Bauernhof im Dorf Chudobczyce bei Posen angekommen. Es ist eine triste Gegend, die grau-grünen Wohnblöcke stammen noch aus sozialistischen Zeiten, einen Bus in die nächstgrößere Stadt gibt es nicht. In dieser Einsamkeit sind die Männer sicher vor den Versuchungen des Stadtlebens.

Alte Weggefährten

Miroslav umarmt alte Weggefährten, die er auf den Berliner Straßen getroffen hat: „Opa, wie geht es dir?“, fragt einer. „Gut, gut.“ Mit Tadeusz, der schon seit 18 Jahren auf dem Bauernhof lebt, teilt er sich künftig ein Zimmer. Er könnte sich vorstellen, in der Küche zu arbeiten, sagt Miroslav. Dass er auf den Alkohol hier verzichten müsse, sei kein Problem. Sorge bereite ihm nur, dass ihm wegen der Schulden, die er noch der Bank zahlen muss, eine Gefängnisstrafe droht. Doch darüber will er sich jetzt keine Gedanken machen. Miroslav sagt: „Das Schicksal wird zeigen, was mit mir passiert.“

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