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Gotteshaus im Grenzgebiet - die Heilandskirche Sacrow.

© BStU/Stadi Unterlagen Archiv

„Niemand hat uns getröstet“: Historische Narben Sacrows - Die Geschichte eines Potsdamer Ortsteils

Eine Ausstellung in Schloss Sacrow erzählt die Geschichte des Potsdamer Ortsteils und seiner Bewohner in der NS-Zeit und im Kalten Krieg.

Wenn Pfarrer Joachim Strauss in den drei von ihm betreuten Kirchen Gottesdienst feiern wollte, war dies mit Unbequemlichkeiten verbunden. Sein Pfarrhaus lag nahe der Klein-Glienicker Kapelle, gehörte also zu Potsdam. Von dieser ersten Station fuhr er mit seinem Boot nach Sacrow zur Heilandskirche.

Nun wäre es naheliegend gewesen, über die Havel zu setzen und nahe St. Peter und Paul auf Nikolskoe anzulegen, aber dazu hätte er die Grenze zu West-Berlin überqueren müssen – unmöglich. Also ging es zurück zur Glienicker Brücke. Auf ihr überquerte Strauss die Grenze, stieg auf der West-Seite auf sein dort abgestelltes Moped und knatterte nach Nikolskoe.

Eine der vielen Absurditäten des Kalten Krieges, die der Pfarrer von 1947 bis 1961 erdulden musste. Mit dem Mauerbau war damit Schluss, blieben die West-Berliner Gemeindemitglieder und die durchs Grenzregime weggesperrten Sacrower unerreichbar.

Doch was heißt Mauer. Anfangs war der „sozialistische Schutzwall“ vielerorts und auch in Sacrow nicht mehr als ein Stacheldrahtzaun, der erst nach und nach zum kaum überwindbaren Grenzsystem aufgerüstet wurde. Ein gut gewähltes Schauobjekt also, mit dem die Besucher der am Freitagabend im Schloss Sacrow eröffneten Ausstellung „Sacrow - Das verwundete Paradies“ empfangen werden: eine raumgreifende Fotowand, links eine Aufnahme der eingezäunten Heilandskirche kurz nach dem 13. August 1961, rechts 28 Jahre später, dazu auf der Rückseite eine Serie von Fotos, die von den Grenztruppen Abschnitt für Abschnitt angefertigt worden waren, um bei einem eventuellen „Grenzdurchbruch“ gleich im Bilde zu sein.

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Von 1961 bis 1989 war die Heilandskirche nicht zugänglich und verfiel. Heute gehört sie zum Weltkulturerbe.
Von 1961 bis 1989 war die Heilandskirche nicht zugänglich und verfiel. Heute gehört sie zum Weltkulturerbe.

© Stiftung Preußische Schlösser und Gärten

„Das verwundete Paradies“ – so hießen schon eine DVD und ein Buch von Jens Arndt, der die im Vorjahr wegen Corona verschobene, nun passend zum 60. Jahrestag des Mauerbaus gezeigte Ausstellung für den Verein ars sacrow kuratiert hat. Vieles vom Gezeigten könnte man sich also auch zu Hause ansehen oder nachlesen, aber bei allen Qualitäten von Film und Buch: Sie vermögen das Erlebnis am Handlungsort der vielen dazu erzählten Geschichten nicht zu ersetzen.

Da ist zum einen die in zwei Diktaturen geschundene, nun wieder paradiesisch anmutende Szenerie des Ortes selbst mit seinem Schloss, eigentlich mehr ein Gutshaus, mit dem von Peter Joseph Lenné geschaffenen, mühevoll rekonstruierten Park und der von Ludwig Persius entworfenen, ebenfalls restaurierten und zum Weltkulturerbe erklärten Kirche. Und da ist die Ausstellung, die auf knappe Texte, viele Fotos, faksimilierte historische Dokumente, Videointerviews und vor allem auf das setzt, was Jens Arndt die „Sprache der Dinge“ nennt.

Wenige ausgesuchte Gegenstände, von Bewohnern des Ortes oder auch Ehemaligen zur Verfügung gestellt und allesamt hoch geeignet, die große deutsche Geschichte „wie in einem Brennglas“ zu verdichten – typisch für Sacrow, wie Arndt zu Recht meint.

Zum Beispiel ein Holzkoffer, die Innenseite des Deckels mit Tannenzweigen und Kerze sowie dem Datum „24. Dezember 1944“ bemalt. Damals saß der Empfänger des weihnachtlichen Geschenks, der Jurist und Widerstandskämpfer Hans von Dohnanyi, im KZ Sachsenhausen, wo er wenige Monate später erhängt wurde.

Der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi.
Der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi.

© Jörg Johow

Er hatte mit seiner Familie in einer Sacrower Villa gelebt, den Koffer hatten ihm seine Söhne, der spätere Bundesminister und Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi und sein jüngerer Bruder Christoph, in einer benachbarten Bootswerft getischlert und nach Sachsenhausen gebracht. Ob er ihren Vater je erreichte, ist unbekannt, aber offenbar wurde er der Familie nach dem Tod des Vaters zurückerstattet, ebenso wie die Zeichnungen, die dieser während der Haft von seinem Haus in Sacrow wie auch dem Haftalltag angefertigt hatte.

Sieben solcher mit Sacrow eng verbundenen, oft berührenden Schicksale hat Arndt als Mittelpunkt der Ausstellung gewählt. Schon die Schlagworte an den jeweiligen Räumen deuten an, was den Besucher dort erwartet. „Kinder, lauft schon mal vor“, steht am Eingang des Dohnanyi-Raums. Das sagten Hans und Christine von Dohnanyi bei sonntäglichen Spaziergängen mit Christines Bruder Dietrich Bonhoeffer oder anderen Widerstandskämpfern, wenn sie bei ihren Gesprächen allein sein wollten.

Der Schlagbaum, der Sacrow absperrte, fiel am 12. November 1989.
Der Schlagbaum, der Sacrow absperrte, fiel am 12. November 1989.

© Karl-Hein Schultz

„Niemand hat uns getröstet“, heißt es dagegen am Eingang des Raumes, in dem an Lothar Hennig erinnert wird. Der junge Sacrower wurde am 4. November 1975 durch „Anwendung der Schusswaffe im Grenzgebiet“ getötet, wie es auf der danach von den Grenztruppen angefertigten Skizze heißt. Ihm wurde die Angewohnheit zum Verhängnis, von der Bushaltestelle nach Hause zu rennen. Das hatte ein Grenzposten missverstanden.

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Lothar Hennig beschreiben seine beiden Schwestern als Beatles-Fan, oft gab er bei Tanzveranstaltungen den DJ. Auch hier wirkt die von Arndt beschworene „Sprache der Dinge“. Ausgestellt sind Schallplatten, an denen der auf West-Musik eingeschworene Sacrower sehr gehangen haben muss, von der britischen Band Christie etwa oder den Les Humphries Singers. Die größte Kostbarkeit in seiner Plattensammlung waren sicher John, Paul, George und Ringo, „A Collection of Beatles Oldies“, eine Amiga-Pressung im „Sgt. Pepper’s“-Look.

„Sacrow – Das verwundete Paradies“, Schloss Sacrow, bis 9. 11., Fr - Mo, 11 bis 18 Uhr. Infos, auch übers Begleitprogramm: www.sacrow-das-verwundete-paradies.de

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